Unbequemer Blick auf gestern und heute
Nadia Bendinelli
21. September 2020
Robert Frank, «Parade – Hoboken, New Jersey», 1955 (© Andrea Frank Foundation, mit freundlicher Genehmigung der Pace/MacGill Gallery, New York)
Geschichte wiederholt sich. Unheimlich wird es, zeigen Fotografien aus den 1950er-Jahren nahezu deckungsgleich dieselben dunklen Seiten einer Gesellschaft, die jetzt in der Tagespresse (wieder) im Fokus steht – der amerikanischen. Die Ausstellung «Robert Frank – Memories», aktuell bei der Fotostiftung Schweiz in Winterthur zu sehen, ist sowohl Ehrung eines besonderen Fotografen als auch brandaktuelle Sozialkritik.
Die Ausstellung über Robert Frank wurde noch zu seinen Lebzeiten konzipiert und bekam die leicht neue Ausrichtung «Memories» nach seinem Tod im September 2019. Die Schau ist in drei Abschnitte gegliedert: «Frühwerk», die Wandel- oder Findungsphase «Black White and Things» und «Amerika, Amerika». Parallel zur eigentlichen Ausstellung ist in separaten Räumen die Schau «Books and Films» zu geniessen. Die Seiten aller von Frank mit dem Steidl-Verlag veröffentlichten Bücher sind auf eine lange Wand gedruckt und ermöglichen einen schnellen, umfassenden Blick auf sein publizistisches Gesamtwerk. Über eine Leinwand flimmern vier von Robert Frank gedrehte Filme.
Franks bekannteste Bilder gehören zu einem Zweijahresprojekt, das 1958 im Buch «Les Américains» (Delpire, Paris) erstveröffentlicht wurde. Jede Doppelseite wurde dabei mit Texten zum Thema Amerika kombiniert – gegen den Willen des Fotografen. So kam ein Jahr später «The Americans» (Grove Press, New York) nur mit einem Vorwort von Jack Kerouac, Vertreter der Beat Generation, heraus. Im Raum «Amerika, Amerika» sind einige dieser Fotografien zusammen mit anderen Aufnahmen aus der Serie, die im Buch nicht zu finden sind, zu sehen. Diese Arbeit stiess bei Erscheinen auf heftige Ablehnung und Kritik: Was erlaubte sich ein Schweizer, Amerikas «greatness» so böswillig zu zerstören? Frank blickte nämlich hinter die schillernde Fassade: Er zeigte Rassismus, übersteigerten Patriotismus, zügellosen Konsum und Korruption in der Politik. Ein Blick auf die Fotografien genügt, um verblüffende Ähnlichkeiten mit dem Bild zu erkennen, das Amerika heute abgibt.
«Vor allem weiss ich, dass das Leben einem Fotografen nicht gleichgültig sein kann. Eine Meinung ist oft eine Form von Kritik. Aber man kann auch aus Liebe kritisieren. Es ist wichtig, das zu sehen, was für andere unsichtbar ist.»
Robert Frank, «Trolley – New Orleans», 1955 (© Andrea Frank Foundation, mit freundlicher Genehmigung der Pace/MacGill Gallery, New York)
UnkonventionellRobert Franks Suche nach einem persönlichen Stil liess ihn von den fotografischen Konventionen grossen Abstand nehmen. So entstanden grobkörnige Bilder, er arbeitete mit schiefen Horizonten und unorthodoxen Belichtungszeiten. Frank entschied sich, intuitiv zu fotografieren, und richtete seinen Blick auf das Alltägliche. Die Qualität seiner Arbeit, zuerst in Abrede gestellt, wurde allmählich international anerkannt – erst aber, als er sich dem Film widmete und nicht mehr fotografierte.
Die Aktualität seines Schaffens, der ausgeprägt erzählerische Charakter seiner Arbeiten und die Tatsache, dass seine Stilsuche zu einer neuen fotografischen Richtung führte, machen die Ausstellung «Robert Frank – Memories» sehenswert.
Robert Frank, «White Tower», New York 1948 (© Andrea Frank Foundation, mit freundlicher Genehmigung der Pace/MacGill Gallery, New York)
Grüzenstrasse 45
8400 Winterthur
Ausstellung «Robert Frank – Memories»: 12. September bis 10. Januar 2021