Wohnwünsche ermöglichen

Falk Jaeger
4. Juli 2024
Die Ausbauhäuser von Praeger Richter Architekten in Berlin-Neukölln (links) und beim Südkreuz (Fotos: Andreas Friedel)

Manchmal macht’s ein geschicktes Label. Den sonderbaren Begriff «Ausbauhaus» haben sich die Berliner Architekten Henri Praeger und Jana Richter nicht etwa einfallen lassen, sondern eher gekapert. Er kommt eigentlich aus der Fertighaus-Branche und bezeichnet Häuser, die halbfertig geliefert und von den zukünftigen Bewohnenden per «Muskelhypothek» aus Kostengründen selbst fertig ausgebaut werden. 

Bei Praeger Richter hat das Wort eine etwas andere Bedeutung, denn es geht ihnen vor allem um den freien Zuschnitt und die individuelle Aufteilbarkeit der Wohnflächen: Man baut eine Tragstruktur aus Beton mit grossen Spannweiten von Aussenwand zu Aussenwand und gewinnt so stützenfreie Geschossflächen, die durch leichte Trennwände beliebig unterteilt, eben «ausgebaut» werden können. Auch das ist nicht neu, geschieht oft im Bürobau, seltener dagegen im Wohnungsbau, weil Spannweite teuer ist. Natürlich eignet sich das Prinzip auch gut für Baugemeinschaften und Baugruppen, die viel Eigenleistung einbringen wollen.

Blick auf die Südfassade des Ausbauhauses in Neukölln, das 2014 fertiggestellt wurde. (Foto: Andreas Friedel)
Zuerst fallen beim kürzlich bezogenen Ausbauhaus Südkreuz die roten Sonnenschutz-Vorhänge auf. (Foto: Andreas Friedel)
Prototypen in Neukölln und Schöneberg

Ihr Prototyp war das Ausbauhaus Neukölln, 2014 in der Braunschweiger Strasse in Berlins gleichnamigem Stadtteil entstanden, eine Art Rohbauregal mit individuellem Ausbau, bei dem es vor allem auf die Minimierung der Baukosten ankam. Trotzdem sind, weil jeder Bauherr seine Wünsche realisieren konnte, optimale, individuelle Wohnungen entstanden, die aber bei veränderten Lebensumstände leicht umgebaut werden können.

Jüngst fertiggestellt wurde nun das Ausbauhaus Südkreuz in Berlin-Schöneberg, das zunächst mit roten Sonnenschutz-Vorhängen an den Fassaden überrascht, wie sie aus Japan bekannt sind. Schon in Neukölln hatten Henri Praeger und Jana Richter Vorhänge vor den Loggien montiert – eine kostengünstige Lösung, die sich ohne grossen Aufwand auswechseln lässt und wohl auch ab und zu erneuert werden muss. In Schöneberg bot das Finanzierungskonzept der Bauherrschaft grössere Spielräume, sodass man in einem Konzeptverfahren den Zuschlag für das Grundstück erringen konnte. 

Ein Wohnraum im Ausbauhaus Neukölln (Foto: Andreas Friedel)
Ein Gewinn Bewohnerschaft und Kiez

In diesem Fall haben die Architekten den Bauherren Regelgrundrisse angeboten, die nicht unbedingt durch innovative Wohnformen und Wohnungstypen überraschen, wie dies durch die Freiheit bei der Flächeneinteilung denkbar wären. Es ging vor allem um die Kombinierbarkeit verschiedener Wohnungsgrössen. Vielleicht hat das damit zu tun, dass uns aufgrund der jahrzehntelangen Prägung durch die Drei-Zimmer-Küche-Bad-Kultur die Fantasie abhandengekommen ist, wie man Wohnwünsche entwickeln und individuell realisieren könnte.

Neben 13 Eigentumswohnungen realisierte die Bauherrengemeinschaft verdienstvollerweise zusätzlich drei Sozialwohnungen, eine kleine Gästewohnung im Dachgeschoss und im Erdgeschoss zwei Gewerbeeinheiten, die «kiezgebunden» zu nutzen sind. Ein Start-up für Gründerseminare und ein von den Bewohnenden ehrenamtlich betriebenes «Kiezwohnzimmer» mit Atelier zum kulturellen und sozialen Austausch sind dort eingezogen. Ein Glücksfall in jeder Hinsicht, für die Beteiligten wie für den Kiez und die Stadt.

Beim Ausbauhaus Südkreuz können sämtlich Bauteile zerstörungsfrei ausgebaut und anderweitig erneut verwendet werden. (Foto: Andreas Friedel)
Für die Wiederverwendung geplant

Ausbauhaus ist freilich nicht das einzige Label, mit dem das Haus punkten kann. Es sei beim Abriss fast vollständig rezyklierbar, heisst es, also sortenrein zu zerlegen. Nach dem Materialkreislaufprinzip Cradle-to-Cradle sollen Downcycling und Müll vermieden werden. Das Prinzip greift aber auch schon während der Nutzungsdauer der Architektur, indem die verschiedenen Bestandteile des Baus hierarchisch behandelt werden. Das Betonskelett kann hundert Jahre stehen und leicht neuen Nutzungen angepasst werden. 

Die Holzwände und die Haustechnik sind auf dreissig Jahre ausgelegt. Die Fassaden, ebenfalls aus Holz, sind kurzlebiger, können aber wegen der umlaufenden Balkone ohne Gerüst leicht ausgetauscht oder gestrichen werden. Den kürzesten Lebenszyklus haben die Fassadenvorhänge als äusserste Schicht dieser Hierarchie. Bis auf die Fliesen in den Bädern ist nichts im Gebäude verklebt, auch die Böden können sortenrein wieder ausgebaut werden. Ziel ist, die katalogisierten Bauteile möglichst verlustfrei wiederverwenden zu können. 

Lebenszyklen der Bauteile des Ausbauhauses Südkreuz (© Praeger Richter Architekten)
Gelingt der Schritt vom Experiment zur gängigen Praxis?

Wie oft an der Spitze einer Entwicklung weiss noch niemand, ob und welche dieser als nachhaltig gedachten Techniken des Materialeinsatzes sich durchsetzen und bewähren werden. Hochwertig zu rezyklieren scheint ein ebenso erstrebenswertes wie erreichbares Ziel zu sein. Ein Gebäude aus katalogisierten Bauteilen und Materialien zusammenzusetzen, um es später zu demontieren und die Elemente neuerlich zu verbauen, ist eine ganz andere Nummer. 

Die frischgebackenen Gewinner des EUmies Awards Gustav Düsing und Max Hacke haben das bei ihrem Studierendenhaus in Braunschweig auch angestrebt. Ob es jemals dazu kommt, dass das Gebäude sauber zerlegt und anderenorts wiederverwendet wird, ist nicht sehr wahrscheinlich. Dazu bräuchte es zertifizierte und digital erfasste Baustoffe und Bauteile, und dafür wiederum wäre eine enorme Logistik mit Gebrauchtmaterialhandel und entsprechender Lagerhaltung nötig – beides gibt es in Deutschland bislang nicht. Der deutsche Pavillon «Reduce/Reuse/Recycle» an der Architekturbiennale von Venedig des Jahres 2012 zu diesem Thema liess eine Ahnung davon aufkommen.

Doch sehen wir es positiv: Beide Häuser habe eine Pionierfunktion, sind Prototypen, Versuchsbauten auf dem Marsch zur grossen Bauwende, der über viele verschiedene Wege gegangen werden muss. Solange der Aufwand, sortenrein und gar demontierbar zu konstruieren, im Rahmen eines gewöhnlichen Bauprojekts tragbar ist – und das haben Praeger Richter unter Beweis gestellt –, sind solche Projekte erwünscht, sinnvoll und zu fördern.

Dazu müssen die Rahmenbedingungen geschaffen werden. Jana Richter beklagt, dass sowohl das Prinzip Ausbauhaus als auch das rezyklierbare Haus in Deutschland keine Chance bekämen, von kommunalen Wohnungsbaugesellschaften in zahlenmässig bedeutsamer Menge realisiert zu werden. Diese Bauweisen würden deshalb nur von Baugruppen und Genossenschaften aufgegriffen. Sie fristen bisher ein Nischendasein. Aber man könnte ja damit anfangen, mehr kommunale Ausschreibungen in Form von Konzeptverfahren zu eröffnen, bei denen solche ambitionierten Projekte gezielt initiiert werden. Wenn die Berücksichtigung des CO₂-Footprints und der Ressourcenschonung beim normalen Wohnungsbau ernst genommen werden sollen, zeigen Praeger Richter einen Weg, wohin die Entwicklung gehen könnte.

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