Die neue Aktualität alter Texte

Elias Baumgarten
18. avril 2024
Foto: Elias Baumgarten

Sie wirken verblüffend vertraut, die Themen der 70er-Jahre: Ähnlich wie heute politisierte die Umweltzerstörung damals viele Menschen – sie protestierten gegen die Atomkraft, besetzten in der Schweiz zum Beispiel 1975 das Gelände des geplanten Kraftwerks Kaiseraugst. Der Bericht des Club of Rome zu den «Grenzen des Wachstums» und die Erdölkrise liessen ein Bewusstsein für die Endlichkeit der Ressourcen entstehen, und das Wachstumsparadigma wurde infrage gestellt – etwa von Frankreichs bekanntem marxistischen Philosophen und Soziologen Henri Lefebvre. Doch auch über die Spekulation mit Boden und Wohnraum wurde diskutiert, und man suchte nach neuen, zeitgemässeren Wohnformen. Die Beteiligung der Nutzerinnen und Nutzer an der Planung war im Fahrwasser der 68er-Bewegung ebenfalls bereits Thema.

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Kaum erforschte Blützeit

Der Architekturdiskurs wurde in den 70ern intensiv geführt: In Deutschland zum Beispiel gründeten Studierende und Assistenten der Universität Stuttgart 1967 die Zeitschrift Arch+. Zunächst als wissenschaftliche Publikation gedacht, entwickelte sie sich bald zur politischen Diskussionsplattform. Es entstanden Themenhefte zur Aneignung und Beteiligung, zur Wohnungsfrage, zum Städtebau und schliesslich zum ökologischen Bauen. In der Schweiz verantwortete der streitbare Soziologe Lucius Burckhardt bis 1972 als Chefredaktor das werk, das Publikationsorgan des Bundes Schweizer Architektinnen und Architekten (BSA). 1971 gründete der kleinere Berufsverband FSAI die Zeitschrift archithese als neue Plattform für den Architekturdiskurs – durchaus auch, um das publizistische Monopol des BSA zu brechen. Das Redaktionsteam bestehend aus dem Kunsthistoriker Stanislaus von Moos, seiner Frau Irène und dem Westschweizer Architekturjournalisten Jean-Claude Widmer bot unterschiedlichen Meinungen ein Forum. Es gelang, Beiträge von einflussreichen Persönlichkeiten wie Rem Koolhaas, Aldo Rossi, Charles Jencks, Denise Scott Brown, Manfredo Tafuri oder Henri Lefebvre zu veröffentlichen. Manche Positionen wurden deutschsprachigen Interessierten sogar überhaupt erst durch archithese zugänglich. Für den FSAI indes war die Gründung der Architekturzeitschrift ein Wagnis: Gleich das erste Heft erhitzte mit einem kritischen Bericht über die Unterbringung von sogenannten Gastarbeitern die Gemüter – einigen Mitgliedern war der Text bei weitem zu politisch.

Lange waren die deutschsprachigen Architekturmagazine jener Zeit kaum erforscht. Nun aber ist ein wachsendes Interesse zu beobachten – was auch mit der augenblicklich grossen Aktualität der damals diskutierten Themen zu tun haben dürfte. Stephan Trüby, Leo Herrmann und Sandra Oehy beschäftigten sich beispielsweise von 2019 an in einem grossangelegten Forschungsprojekt mit der Arch+. Hierzulande erschien 2021 mit «Bauen ist Weiterbauen», herausgegeben von Philippe Koch, Andreas Jud und dem Institut Urban Landscape der ZHAW, ein lesenswertes Buch zur Arbeit Lucius Burckhardts. Und nun liegt mit dem «archithese reader» eine Aufarbeitung der zwischen 1971 und 1976 veröffentlichten Ausgaben der Zeitschrift vor.

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Wissenschaftliche Auseinandersetzung

Mit seinem Format (17,3 × 21,8 Zentimeter) greift das neue Buch die fröhlich-bunten Hefte auf, die dieselben Abmessungen hatten. Herausgegeben wurde es von der Kunsthistorikerin Gabrielle Schaad und dem Architekturhistoriker Torsten Lange. Der «archithese reader» besteht aus fünf thematischen Kapiteln. Dabei ist jeweils ein einordnender Aufsatz einer Auswahl von ins Englische übersetzten archithese-Artikeln vorgeschaltet. Faksimile-Seiten ergänzen die Texte. Den Schlussstein schliesslich bildet ein langes, sehr interessantes Interview mit Stanislaus von Moos. Darin werden Details der Entstehungsgeschichte und der Redaktionsarbeit enthüllt.

Beim Lesen wird schnell klar, dass es sich um eine wissenschaftliche Publikation handelt. Die Essays und die Einführung in englischer Sprache muss man sich richtiggehend erarbeiten: Sie sind vollgepackt mit Wissen, doch leider ab und an allzu ausführlich und unnötig kompliziert geschrieben. Das Buch bietet ein merklich anderes Leseerlebnis als das ebenso gehaltvolle, aber viel zugänglichere «Bauen ist Weiterbauen». Es dürfte vor allem Leserinnen und Lesern gefallen, die sich sehr für Architekturgeschichte und -theorie interessieren und bereits gut mit den Diskursen der Postmoderne vertraut sind. Besonders wertvoll ist der «archithese reader» wohl auch für Forschende, die zur Architekturpublizistik oder Postmoderne arbeiten.

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Anschlussfähige Beiträge

Die gelungene Auswahl an Artikeln verdeutlicht den pluralistischen Ansatz und die Themenvielfalt, für die die archithese schon kurz nach ihrer Gründung über die Schweiz hinaus geschätzt war. Interessant sind die vielfältigen Anknüpfungspunkte, nachdenklich stimmen die teils noch immer nicht beherzigten Lektionen: Nehmen wir zum Beispiel das Interview mit Henri Lefebvre, das Jean-Claude Widmer für die zweite Ausgabe der Zeitschrift führte. Der französische Denker sagte damals, das Wachstumsparadigma müsse überwunden werden. Gelungen ist das bis heute nicht. Immer noch ist schneller Profit oft wichtiger als nachhaltiges Handeln, und vielen Menschen fällt es sehr schwer, selbst zu verzichten, statt dies nur von anderen zu verlangen. Lefebvres Forderung ist heute in Zeiten der Klimakrise und knapper werdender Ressourcen aktueller denn je. Interessant auch sein Architekturverständnis: Die Disziplin ist für den Philosophen und Soziologen bestimmt von den sozioökonomischen Rahmenbedingungen. Das erinnert nicht nur an Lucius Burckhardt, der etwa zur selben Zeit forderte, sich mit den Wechselwirkungen zwischen Architektur und Gesellschaft zu befassen. Es ruft vor allem auch Stefan Kuraths 2021 erschienenes Buch «jetzt: die architektur!» lebhaft in Erinnerung, in dem der ZHAW-Professor eine Architekturauffassung kritisiert, bei der gesellschaftliche Einflüsse vernachlässigt oder gar bestritten werden. Wiederum zeigt sich, wie aktuell das über fünfzig Jahre alte Interview ist. Und das ist nur ein Beispiel dafür, wie intensiv die Beiträge aus den 70ern mit den aktuellen Diskussionen resonieren. Der «archithese reader» macht grosse Lust, die alten Hefte wiederzuentdecken – einige kann man übrigens noch regulär im archithese-Onlineshop physisch erwerben, die anderen werden dort als PDF-Dokumente angeboten.

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