Engelberg wagt einen Blick hinter die Kulissen

Susanna Koeberle
11. Juli 2024
Das Schuhmacherhäuschen ist im Rahmen von «Backstage Engelberg» nach 28 Jahren erstmals wieder begehbar. (Foto: Michael Calabrò)

Im Pfisterhuesli tropft es leise und regelmässig in ein paar lose verteilte Kessel und Eimer, als hätte der Regen, der draussen in Strömen vom Himmel prasselt, den Weg ins Innere gefunden. Ich bleibe gebannt stehen, lausche und staune. Während die Behältnisse echt sind, erkennt man schnell, dass die Tropfen «nur» imaginiert sind: Sie gehören zu einer Videoarbeit von Zilla Leutenegger, welche die Künstlerin speziell für die von Dorothea Strauss kuratierte Ausstellung entwickelt hat. Allerdings sind sie kein Kommentar zum Wetter am Eröffnungstag von «Backstage Engelberg». Das Werk heisst «Filled with Tears»: Tränen also und nicht Regentropfen. Bis zum 18. August – so lange dauert dieser besondere Kunstanlass – müsste wohl ein Meer von Tränen zusammenkommen, das dann auf wundersame Weise verschwindet, statt den Raum und seine Umgebung zu fluten. Ist dieser Gedanke tröstlich? Können wir in der Kunst auch Trost finden? In der Kunst seien wir immer mit Fragen unterwegs, davon würde die Kunst leben, hört man die Künstlerin im eigens für die Veranstaltung erstellten Mediaguide sagen. Man versteht die Arbeit aber auch so. Oder viel eher: Sie berührt ganz unmittelbar. Und ja, sie tröstet irgendwie auch. Nicht nur über das schlechte Wetter hinweg.

Eine weitere Arbeit von Zilla Leutenegger, nämlich «ZillaGorilla» aus dem Jahr 2021, ist in einer ungenutzten Kegelbahn zu sehen. (Foto: Michael Calabrò)

Dass Interessierten zu jeder der 21 Örtlichkeiten sowie zu den Arbeiten der 53 geladenen Künstlerinnen und Künstler zusätzliche Infos zur Verfügung gestellt werden, ist nichtsdestotrotz eine lobenswerte Initiative. Erklärende Saaltexte im musealen Kontext haben häufig etwas Elitäres und füttern vor allem den Diskurs einer weltfremden Kunstblase. Die gesprochenen Texte des Audioguides sind verständlich, auf jeden Fall aber inklusiver als die meisten Kunsttexte. Als international vernetzte Kunstexpertin und Kuratorin ist Dorothea Strauss zwar Teil der Kunstwelt, sie möchte diese Räume aber öffnen und Kunst einem breiteren Publikum zugänglich machen. Mit ihrem Blick hinter die Kulissen der «Realität» (eben darum «Backstage») macht sie die Vielstimmigkeit und Mehrdeutigkeit der Fragen, die Kunstschaffende durch ihre Werke stellen, hörbar. 

Damit möchte sie «in Zeiten gesamtgesellschaftlicher Unsicherheit und Unruhe, Freiräume für Neugier, Entdeckergeist, Gemeinschaftssinn und Lust auf Veränderungen schaffen». Die Ausstellung zeige auf beeindruckende Weise, wie Künstlerinnen und Künstler auf die Wirklichkeit unserer Zeit reagieren: «Ihre Werke schärfen unsere Sinne für die Wahrnehmung unserer Welt, indem sie intellektuell anregen und emotional berühren. Wach zu machen und Menschen in einen Austausch miteinander zu bringen – genau darin liegt die einzigartige Kraft der Kunst.» Angeregt wurde die Ausstellung durch den Zürcher Galeristen Peter Kilchmann, der seit vielen Jahren nach Engelberg kommt und sich diesem Ort in mehrfacher Hinsicht verbunden fühlt. Unterstützt wird dieses Vorhaben zudem durch viele Protagonist*innen des geschichtsträchtigen Klosterdorfs.

Der Künstler Andriu Deplazes hat eigens für das Pfisterhuesli eine mehrteilige Installation kreiert. Im Bild zu sehen «Corps à genoux» aus diesem Jahr. (Foto: Michael Calabrò)

Beim Schreiben versetzt mich der Audioguide geradewegs an den Tag des Besuchs von «Backstage Engelberg» zurück. Dabei erzeugt nicht nur die zeitliche und örtliche Distanz eine Art Ver-rückung. Fast scheint es mir, als wäre ich beim Gedanken an die Orte und Kunstwerke in einem Traum gelandet, zumindest aber an einem der Wirklichkeit entrückten Ort. Auch das ist die Kraft der Kunst: Sie versetzt in andere Zustände, sie nimmt an andere Orte mit; das können auch innere Orte sein. Aus dieser Entfernung erscheint paradoxerweise vieles klarer, gerade weil die Kunstwerke keine simple Lösung für die Vielzahl drängender Fragen bieten. Auch nach der Begehung hallt einiges nach. Das mag mitunter daher kommen, dass ich Engelberg tatsächlich zum ersten Mal besuchte. Die Ausstellung schafft eine alternative Landkarte des Ortes. Als reguläre Ausflugstouristin wäre mein Nachmittag in der Gemeinde gewiss in anderen Bahnen verlaufen. 

Die Arbeit «A Green Painting of a White Poodle Playing with a Yellow Octopus XV» (2024) von Fabian Marti im Tal Museum Engelberg (Foto: Michael Calabrò)

So führt «Backstage Engelberg» Besuchende in ein unbekanntes Engelberg. Einige Orte sind sonst nämlich nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Dazu gehören eine nicht mehr genutzte Kegelbahn im Hotel Engelberg, der historische Eiskeller des Hotels Bänklialp, der Dachboden des Hotels Bellevue-Terminus, zwei Zimmer und weitere Orte im Hotel Terrace, eine frühere Schlachterei oder ein ehemaliges Schuhmacherhäuschen aus dem frühen 20. Jahrhundert. Gerade das letztgenannte Bauwerk ist quasi ein Kunstwerk für sich: Wir betreten gleichsam eine Zeitkapsel. Denn wir finden den Raum genauso vor wie am Tag, als der Schuhmacher Emil Waser seine Werkstatt schloss. Und das ist bereits 28 Jahre her. 

Der Künstler Olaf Nicolai wollte dem Ort zu Beginn tatsächlich gar keine Kunst hinzufügen, als er das Häuschen zum ersten Mal sah, so fasziniert war er davon. Am Ende entschied er sich trotzdem für eine Intervention: Inmitten von alten Werkzeugen, Schuhleisten und anderen Relikten steht ein alter Brionvega-Fernseher. Und genau dort eröffnen sich vollkommen neue Dimensionen – Zeit und Raum scheinen plötzlich relativ zu sein. Denn auf dem Bildschirm erkennt man ferne Galaxien, in die der Blick langsam hineinzoomt. Für die Videoarbeit «Gateway. AU RO RA» wählte der Künstler drei Weltraumbilder aus seinem Archiv aus. Nicolai verknüpft das Planetare mit dem Lokalen und sensibilisiert zum einen für die besondere Geschichte dieser urzeitlich anmutenden Fabrikationsstätte, zum anderen für die Relativität der menschlichen Existenz auf diesem Planeten. Ist die Arbeit gar eine Art Kanal zu ausserirdischen Kulturen? Wer weiss. Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart sind jedenfalls mit einem Mal eins. Solche Momente sind wie Geschenke. Auch Bücher, Musik oder Theater können das übrigens sein.

Die drei Filme der Arbeit «Gateway. AU RO RA» von Olaf Nicolai entführen in fremde Galaxien. (Foto: E. Sommer)

Die enge Verbindung zwischen den für das Ausstellen von Kunst ungewohnten Örtlichkeiten und den Werken lasse beidseitig – seitens der Kunst und der Orte – neue Sichtweisen entstehen, ist Dorothea Strauss überzeugt. Dazwischen befinden sich die Besuchenden, denn sie sind es, die die Werke individuell rezipieren und aktivieren – und damit eigene Bedeutungsräume erschaffen. Dafür muss man nicht mal alle 21 Locations sehen, denn jeder Ort ist gleichsam ein Projekt für sich. Darauf deuten auch die Titel der Ausstellungsorte hin; bei Orten mit nur einer Arbeit wurde der Name des Werks übernommen, andere Standorte haben übergeordnete Themen wie etwa «Neue Modelle im Anthropozän» beim Ochsenmatt Gadä, «Über Ahnungen, Wünsche & Beobachtungen» im Pfisterhuesli oder «Mein mystisches Selbst» im Tal Museum. Die Ausstellung verknüpft das Kollektive mit dem Individuellen, das Grosse mit dem Kleinen. Strauss nennt diese Struktur «Kapitel» und deutet damit an, dass alle Stränge zusammengenommen dennoch ein Ganzes bilden.

Die Arbeit «1161 Assemblage» von Clare Goodwin im Erlen-Saal des Hotels Bellevue-Terminus (Foto: Michael Calabrò)

Niemals entsteht aber der Eindruck von Totalität im Sinne eines eingleisigen Welterklärungsnarrativs, die einzelnen Positionen verhalten sich vielmehr rhizomatisch zueinander; sie brechen Hierarchien auf und etablieren eigene Ordnungen. Diese Fähigkeit, uns und die Welt um uns neu zu erfinden, schimmert in der kulturellen Praxis des Spielens durch. Der Künstler Francis Alÿs filmt seit 1999 Kinder beim Spielen im öffentlichen Raum auf der ganzen Welt. Die mehrteilige Videoarbeit «Kinderspiele» wurde unter anderem an der 59. Biennale von Venedig im belgischen Pavillon gezeigt. Eines der Videos wurde 2022 auf Einladung von Peter Kilchmann in Engelberg gedreht und zeigt Kinder beim Spielen im Schnee. 

Wenn vier dieser Filme nun im Gemeinschaftssaal des Hotels Hoheneck abgespielt werden, dann geschieht etwas Eigentümliches: Unser Blick weitet sich, schweift ab in ferne Welten, andere klimatische Bedingungen und fremde Kulturen und kehrt dann zurück nach Engelberg. Das Interesse für Kinderspiele bedient indes keine Heile-Welt-Erzählung, denn im Spiel werden Ordnungen manchmal auch auf brutale Art und Weise erprobt. Doch dabei bilden sich zugleich Gemeinschaften. Und wir erkennen als Zuschauende, wie ähnlich wir Menschen uns doch alle manchmal sind. Das Spiel steht auch für die menschliche Gabe der Kreativität und das Finden von Konsens. «Backstage Engelberg» ruft zum Erkunden multipler Welten auf und schafft damit eine pluralistische Welterfahrung. 

Die Ausstellung dauert noch bis zum 18. August. Die Öffnungszeiten sind donnerstags und freitags von 13 bis 17 Uhr und am Wochenende von 13 bis 18 Uhr. Das Tal Museum ist auch mittwochs geöffnet. Zum Ende der Ausstellung erscheint eine Publikation im Verlag für Moderne Kunst.

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