Darmstadts Stadtkrone leuchtet wieder

Falk Jaeger
5. September 2024
Das Ausstellungsgebäude des Wiener Architekten Joseph Maria Olbrich zeigt auf der Westseite zwar noch ein klassizistisches Formenrepertoire, jedoch bereits eine asymmetrische Anordnung der Baukörper. Der Hochzeitsturm im Vordergrund hingegen weist moderne Stilelemente auf. (Foto: © Jörg Hempel, 2024)

Es kam wie so oft: 2012 hatte sich das Frankfurter Architekturbüro schneider+schumacher auf eine Ausschreibung für die energetische Sanierung der Ausstellungshallen der Künstlerkolonie Darmstadt beworben. Das Raumklima entsprach nicht den Anforderungen an einen modernen Ausstellungsbetrieb. Zwölf Jahre später, am Ende der Baumassnahmen im Sommer 2024, hatte man das gesamte Gebäude umfassend saniert und statt 6.7 Millionen Euro 33 Millionen verbaut.

Für die Ausweitung des Bauauftrags, die Kostensteigerungen und die lange Bauzeit gab es zwei Hauptgründe. Die klimatechnische Sanierung zog (für die Auftraggeber offenbar überraschend, für die Architekten weniger) eine Erneuerung der gesamten Haustechnik nach sich, wobei das historische Gebäude nur wenig Raum für moderne Anlagentechnik bot. Zum zweiten fiel in den Planungs- und Bauzeitraum das Antrags- und Anerkennungsverfahren der Künstlerkolonie als UNESCO-Welterbe, was auf die denkmalpflegerische Konzeption und Ausführung nachhaltig Einfluss hatte.

Die Ostseite des Ausstellungsgebäudes hatte Joseph Maria Olbrich symmetrisch aufgebaut. (Foto: © Jörg Hempel, 2024)

Das 1908 von dem Wiener Architekten Joseph Maria Olbrich erbaute Ausstellungsgebäude ist das Herzstück der Künstlerkolonie Darmstadt auf der Mathildenhöhe, des Ensembles aus Künstlerhäusern und Ateliergebäude, das als Retorte des Jugendstils in Deutschland an der Schwelle zur aufkommenden Moderne gilt.

Olbrich, 1867 in Mähren geboren und ein Schüler Otto Wagners, stand in Wien an der Spitze der Sezessionsbewegung, deren emblematisches Ausstellungsgebäude er 1897/98 erbaut hatte. Der kunstsinnige Grossherzog Ernst Ludwig von Hessen kannte die Wiener Szene sehr gut. Als er beabsichtigte, in seiner Residenz Darmstadt eine avantgardistische Künstlerkolonie zu gründen, konnte er 1899 Olbrich dafür gewinnen, dort ein Gesamtkunstwerk vom Städtebau bis zum Dessertteller zu schaffen und die Kolonie zu leiten.

Olbrich selbst erbaute einige der Künstlerhäuser und 1907/08 das zentrale Ateliergebäude der Kolonie in exquisitem Jugendstil. Unter den anderen Kolonisten war Peter Behrens wohl der später bekannteste der Künstler und Architekten. Er baute in der Kolonie sein erstes Haus.

Das Verbindungsglied zwischen Hochzeitsturm und Halle 3 haben die Architekten schneider+schumacher in heutiger Formensprache gestaltet. (Foto: © Jörg Hempel, 2024)
Blick aus dem Verbindungsbau auf die vorgelagerte Terrasse und die orthodoxe Kapelle aus dem Jahr 1899. (Foto: © Jörg Hempel, 2024)

Das zentrale Ausstellungsgebäude fand seinen Platz auf dem Dach eines Wasserreservoirs, das 1880 auf der Mathildenhöhe errichtet worden war. Aufgrund seines erhöhten Standorts und seiner Statur sowie dem markanten Hochzeitsturm erhebt es sich als Stadtkrone am Rand der Innenstadt. Es ist neben der Wiener Sezession und dem Düsseldorfer Warenhaus Tietz Olbrichs Hauptwerk. Der Bau gilt als Ikone des Jugendstils, wenngleich der Hochzeitsturm, der schon an Mendelsohn denken lässt, einen ersten Schritt auf dem Weg zur Moderne markiert. Ein Weg, den Olbrich wegen seines frühen Todes kaum drei Monate nach Eröffnung des Turms nicht weiter gehen konnte.

Die Baukörperdisposition des mit drei Flügeln um den Rosenhof organisierten Gebäudes lebt von der Ambivalenz zwischen klassizistischen Symmetrien, die vor allem die Ostseite beherrschen, und einem spannungsreichen Arrangement der Baukuben an der Westseite mit den unterschiedlich hohen Saalbauten und dem seitlich beigestellten Hochzeitsturm als Höhenakzent. Bei der Bauzier blieb Olbrich – anders als wenige Jahre zuvor beim in Dekorlust schwelgenden Ateliergebäude – äusserst zurückhaltend. Plötzlich war er der Entwicklung Richtung Moderne ein Jahrzehnt voraus, und man kann nur spekulieren, welche Impulse er in den 1910er-Jahren noch gegeben hätte.

Die Zeitläufe haben dem Bau seither reichlich zugesetzt. 1944 gab es starke Kriegsschäden: Die Hallen brannten aus, aber der Turm blieb bis auf Schäden am Dach intakt. Beim Wiederaufbau ab 1947 fehlte es an hochwertigem Baumaterial, was frühzeitig Sanierungsbedarf nach sich zog. 1951 wurde der Rosenhof mit einer vierten Halle zugebaut. Die 50-Jahre-Jubiläumsausstellung «Mensch und Raum» mit den Meisterbauten und dem legendären «2. Darmstädter Gespräch» unter der Leitung Otto Bartnings fand dort statt.

Die grosse Ausstellungshalle mit restaurierter Oberlichtdecke (Foto: © Kerstin Bucher)
Die Halle 4 war erst nach dem Zweiten Weltkrieg anstelle des Ehrenhofs (Rosengarten) eingefügt worden und erhielt ebenfalls eine neue Dachverglasung. (Foto: © Jörg Hempel, 2023)

Als schneider+schumacher sich der Ausstellungshalle annahmen, war sie in vielerlei Hinsicht marode, verschlissen und durch dürftige Um- und Anbauten entstellt. Drei Hauptaufgaben waren zu meistern: die funktionale Neuorganisation der Räumlichkeiten neben den vier Ausstellungshallen, die Erneuerung der Aussenhaut unter Berücksichtigung der energetischen Verhältnisse sowie die komplette Erneuerung von Heizung, Kühlung, Lüftung, Elektrik und Sanitärinstallationen. Alles unter strenger Observanz durch die UNESCO-Kommission und die hessische Denkmalpflege. 

Schon in den ersten Überlegungen, als es noch ausschliesslich um die energetischen Belange ging, bemühten sich die Architekten, die vorgelagerten Funktionsräume im Sockelgeschoss an der Westseite – schmale Büros und die Schieberkammer des Wasserspeichers – freizuhalten. Hier konnte das Café eingebaut werden, das in früheren Jahrzehnten durchs Haus vagabundierte und nirgends zufriedenstellend platziert war. Jetzt liegt es goldrichtig mit Aussicht und Terrasse zum Vorplatz. Im Café und beim neuen Verbindungsbau zum Hochzeitsturm sowie im eleganten Foyer wird die gestaltende Hand der Architekten sichtbar, die dem Bau im Sinne moderner Denkmalpflege eine neue Zeitschicht hinzufügten.

Eindrucksvolle Relikte der historischen Wassertechnik geben dem Café das Gepräge. Leider liess es sich sicherheitstechnisch nicht einrichten, die noch eindrucksvolleren Gewölbe des Wasserspeichers regulär öffentlich zugänglich zu machen.

Für die Wasserversorgung der Innenstadt werden die beiden sechsschiffigen Gewölbespeicher nicht mehr benötigt. Einer fand jedoch als Wärmepufferspeicher Verwendung und wurde zum Bestandteil des komplexen Energiesystems, das von Erdwärmesonden unterstützt wird. Aus Platzgründen und zur Vermeidung voluminöser Luftkanäle gibt es keine grosse Lüftungszentrale, sondern fünf dezentrale kleinere Anlagen sowie eine Heizzentrale im benachbarten Ernst-Ludwig-Haus.

Die Ertüchtigung der Aussenwände, ursprünglich der Einstieg ins Projekt, begann mit umfangreichen Befunduntersuchungen der bauzeitlichen Gestaltungssysteme, Material- und Farbfassungen. Spätere Putzschichten wurden abgeschält, Zierelemente aus Beton freigelegt. Die zwischenzeitlich vermauerten Fenster der Halle 2 wurden wieder geöffnet. Auch jene der Hallen 1 und 3 waren 1975 zugemauert worden. Dabei blieb es, doch erhielten die Aussenwände ein Putzgliederungssystem mit Faschen und Kassettierungen beziehungsweise Blendfenstern, das sich an Olbrichs erstem, nicht ausgeführtem Entwurf orientiert, der auch ohne Fenster, nur mit Oberlichtern gedacht war. Was zu erhalten war, welche Version zu rekonstruieren war und inwieweit neue gestalterische Ideen zum Zuge kommen durften, wurde im permanenten Abstimmungsmarathon mit der Denkmalpflege entschieden, wobei die UNESCO jeweils eigene Vorstellungen entwickelte, die sie meist von höherer Warte aus durchzusetzen wusste.

Eine aussenliegende Wärmedämmschicht kam aus Denkmalschutzgründen nicht infrage. Ein neuartiger Aerogel-Dämmputz wurde verbaut, der mit nur vier Zentimeter Stärke und drei Millimeter Deckputz hinreichende Dämmwerte mitbringt und im Aussehen dem historischen Putz nahekommt. Wegen der heterogenen Untergründe und der geometrischen Komplexität planten die Architekten 40 verschiedene Putzdetails.

Das Café mit seinen lang gestreckten Räumen wurde durch Spiegel optisch erweitert. (Foto: © Jörg Hempel, 2023)

Ähnlich aufwendig gestaltete sich die Erneuerung der Oberlichtdächer. Die eisernen Dachstuhlkonstruktionen waren trotz des erwähnten Brandes erhalten und wurden ertüchtigt, konnten aber nicht über Gebühr belastet werden. Man entschied sich für eine leichtere Zweifachverglasung der Dachhaut mit transluzenter Wärmedämmung und versah auch die Lichtdecken über den Sälen mit Zweischeibenisolierglas. Eine LED-Lichtanlage ergänzt das Beleuchtungskonzept und erlaubt eine Vielzahl an Beleuchtungsszenarien in den Ausstellungsräumen.

Die Konstellation der vier renovierten Ausstellungshallen blieb unverändert, doch ob es um die Funktionen im Foyer, um barrierefreie Zugänge und Toiletten, um Lasttransporte vom Werkstattanbau in die Hallen, die Einbindung des Hochzeitsturms durch den gläsernen Verbindungsbau oder um die Organisation, Erschliessung und Anbindung des Cafés ging, die Architekten konnten eine Vielzahl von Funktionsabläufen optimieren – trotz geringer Raumreserven und unter Verzicht auf einen neuerlichen Anbau.

Das Institut Mathildenhöhe als Nutzer des Gebäudes kann seine Ausstellungstätigkeit wieder aufnehmen und den Bau mit der eigenen Sammlung sowie mit Gastausstellungen bespielen. Die Künstlerkolonie Darmstadt ist mit dem erneuerten Ausstellungsgebäude und dem Titel UNESCO-Welterbe wieder zur Attraktion mit internationaler Strahlkraft geworden, mit der sich die «Wissenschaftsstadt Darmstadt» gerne schmückt. Welche immensen technischen Probleme bei der welterbegerechten Sanierung zu meistern waren und wie viel Dutzend Diskussionsrunden es zwischen Stadtverwaltung, Denkmalamt, UNESCO-Kommission und Architekten gegeben hat, sieht man dem weithin strahlenden Bau auf der Mathildenhöhe allerdings nicht an.

Grundriss der Ausstellungshallen. Links die Dachaufsicht des Werkstattgebäudes, links unten der Hochzeitsturm (© schneider+schumacher)
Grundriss des Cafés mit vorgelagerten Terrassen und Pergolen. Oben im Anschnitt die Gewölbe des Wasserreservoirs (© schneider+schumacher)
Lageplan des Ausstellungsgebäudes mit Ateliergebäude (oben rechts), Platanenhain (vorn) und russischer Kapelle (rechts) (© schneider+schumacher)
Querschnitt durch Eingangsgebäude (links), Halle 4 mit Sheddach (Mitte) und Halle 3 (rechts) sowie Wasserreservoir (unten) und Werkstattgebäude (unten rechts) (© schneider+schumacher)

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