Saikal Zhunushova: «Ich war die junge Frau mit dem Lowtech-Ansatz, der man wenig zutraute. Doch meine Argumente haben überzeugt»
Elias Baumgarten
25. marzo 2021
Foto: Sebastian Seiler
In ihrer Heimat ausgebildet, studierte die junge Kirgisin an der ZHAW ein zweites Mal Architektur. Heute baut sie in beiden Ländern nach ökologischen Kriterien und teilt ihr Wissen mit ihren Landsleuten.
Saikal, du hast sehr früh beschlossen, Architektin zu werden …
… mein Vater war Architekt. Er hatte eine gute Stelle bei der Verwaltung einer Stadt in Kirgistan – seine Aufgaben entsprachen denen eines Stadtbaumeisters in der Schweiz. Doch dann hatten wir einen Autounfall. Er starb. Als Erinnerung an ihn haben wir seine vielen Bücher und Zeitschriften zur Architektur der Sowjetunion aufgehoben. Sie bedeuteten mir viel. Ich habe sehr gern in ihnen gelesen – da war ich gerade ein Teenager. Sie waren voll von wunderbaren Zeichnungen konstruktivistischer Projekte – diese Bilder haben mich fasziniert. Von da an wollte ich auch Architektin werden!
Du hast in Kirgistan studiert und in Kasachstan gearbeitet, um dann noch einmal ganz von vorne anzufangen: Du hast Deutsch gelernt, bist in die Schweiz gezogen und hast an der ZHAW den Master in Architektur gemacht. Das beeindruckt mich sehr – man braucht dafür grossen Mut und sehr viel Biss! Doch warum überhaupt dieser anstrengende Weg?
Mein Studium war total praxisfremd! Ich konnte nach meinem Abschluss wenig, schon die einfachsten Aufgaben haben mich überfordert. Zum Beispiel wollte mein Onkel wissen, wie man ein modernes WC ins Haus einbauen könne, statt länger das Plumpsklo im Garten benutzen zu müssen. Ich hatte keine Ahnung. Wir haben uns in sechs Jahren nicht einmal mit praktischen Problemen befasst. Es ging immer nur um konzeptionelles Arbeiten, Bauaufgaben und Bauplätze waren rein fiktiv. Wir haben unsere Projekte maximal bis zum Massstab 1:50 ausgearbeitet. Nie haben wir wirklich gelernt, wie man konstruiert und Details entwickelt.
Diese Art der Ausbildung schafft Probleme: Viele Gebäude in Kirgistan sind schlecht konstruiert und gestaltet. Das habe ich schon in meiner Jugend deutlich vor Augen geführt bekommen: Nach dem Tod meines Vaters musste meine Mutter – nun allein mit drei Kindern – in ein kleineres Haus umziehen. Es war dort im Winter eiskalt, wir mussten sehr viel heizen. Die Fenster waren undicht und bei schlechtem Wetter hat es reingeregnet. Diese Erfahrung hat mich als Architektin geprägt.
Du bist also in die Schweiz gekommen, um dir konstruktives Wissen anzueignen …
… meine Idee war, in der Schweiz zu lernen und dann nach Kirgistan zurückzukehren, um mein Wissen zu teilen.
Doch es ist ein bisschen anders gekommen: Du lebst nach wie vor in Winterthur und baust in beiden Ländern.
Es wäre falsch gewesen, die Schweiz nach dem Studium gleich wieder zu verlassen. Ich wäre eine Theoretikerin geblieben: Als Studentin durfte ich gemäss meiner Aufenthaltsgenehmigung nicht arbeiten – noch nicht einmal unentgeltlich. Dabei wollte ich die Schweizer Bürokultur und Baupraxis kennenlernen. Ich bin also geblieben, um diese Erfahrung nachzuholen. Nachdem ich 2017 mit dem Umbau eines historischen Flarzhauses in Bauma meinen ersten eigenen Auftrag erhalten habe, beschloss ich mich selbstständig zu machen und habe Oekofacta gegründet. Heute glaube ich, dass ich mehr bewegen kann, wenn ich in beiden Ländern gleichzeitig arbeite.
Ich stelle es mir schwierig vor, von Kirgistan in ein westliches Land zu gehen und als Lehrerin zurückzukehren.
Leute, die ins Ausland gehen, haben es bei uns nicht immer leicht. Einige sehen sie als Verräter an und lehnen sie ab. Es kommt also darauf an, den richtigen Ton zu treffen: Ich mache Vorschläge und belehre nicht. So wird es für die Menschen leichter, Neues anzunehmen.
Konkret organisiere ich verschiedene Workshops mit starkem Praxisbezug: Zum Beispiel habe ich das Wohnhaus mit Nähatelier, das ich für meine Familie in Bischkek baue, zum Unterrichtsgegenstand gemacht. Es gibt theoretische Lektionen und Baustellenbegehungen. In meinem neusten Kurs unterrichte ich je zur Hälfte praktizierende Architekt*innen und interessierte Bauwillige. Die Teilnehmenden haben zueinandergefunden, und im Rahmen der Lehrveranstaltung entstehen gleich drei nachhaltige Gebäude. Ich bin sehr stolz!
Aktuell finden die Kurse von Saikal Zhunushova Corona-bedingt vor allem online statt. (Foto: Sebastian Seiler)
Die Architektin erklärt Projekte wie ihr Tiny House («Bauen mit Frauen»), die sie in der Schweiz umgesetzt hat, Kolleg*innen in Kirgistan. (Foto: Sebastian Seiler)
Gibt es denn umgekehrt auch Dinge, die Schweizer Architekturschaffende von ihren kirgisischen Kolleg*innen lernen können?
Zugegebenermassen liegt mein Fokus auf dem Wissenstransfer von der Schweiz in meine erste Heimat. Zu deiner Frage fällt mir aber eine herzige Geschichte ein: Ich habe einen Mantel entworfen – einfach, weil ich daran Freude hatte. Meine Mutter hat ihn in Kirgistan aus Filz genäht. Es ist verrückt: Wo immer ich mit ihm auftauche – sei es im Fotomuseum in Winterthur oder in irgendeinem Zürcher Geschäft – werde ich zuverlässig angesprochen. Die Leute sagen, ich müsse das Modell unbedingt nach kirgisischem Vorbild in der Schweiz herstellen lassen.
Im Ernst, mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass sich kirgisische Architekt*innen besser mit Erdbebensicherheit auskennen. Sie verfügen in diesem Bereich oft über Spezialwissen.
Saikal Zhunushova hat einen Mantel entworfen, den ihre Mutter aus reinem Filz nähte. Viele Schweizerinnen sind begeistert. (Foto: Andreas Scheidegger)
Lass uns über deine Architektur sprechen: Dein grosses Thema ist das passivsolare Bauen. Wie kommt das?
Ich habe dir ja schon vom Haus meiner Mutter erzählt, das immer kalt war und das wir so extrem heizen mussten – mein grosses Interesse für die Nutzung der Sonnenenergie rührt von dieser Erfahrung her. Wir haben in Kirgistan ein kontinentales Klima – die Luft ist trocken, im Sommer können die Temperaturen auf über 45° Celsius steigen, im Winter herrscht oft strenger Frost. Neunzig Prozent des Landes liegen über 1500 Meter Seehöhe, und wir haben über 300 Sonnentage. Wenn man dies in der Planung berücksichtigt – also die Häuser vernünftig isoliert, grosse Fensterflächen an den Südfassaden vorsieht und für die Sommermonate einen wirkungsvollen Sonnenschutz einbaut – muss man trotz des rauen Klimas wenig bis gar nicht heizen und kühlen.
Bei deinen Projekten in der Schweiz versuchst du konsequent, die Sonne als Energiequelle zu nutzen. Überhaupt scheint die Schweiz für dich ein Labor zu sein, um konstruktive und gestalterische Lösungen in der Praxis zu testen.
Labor tönt nach Experimenten. Es geht aber um Tatsachen: Der Effekt der Sonneneinstrahlung lässt sich gut mit Simulationen nachweisen. Es funktioniert! In Stäfa zum Beispiel baue ich gerade eine historische Lagerhalle zu zwei Wohnungen um. Das Objekt steht mitten in der Kernzone und direkt am See. Gebäudehülle und Dachform werden nicht verändert, aber ich verstärke die Dämmung und öffne die Südfassade grossflächig, um mehr Tageslicht ins Haus zu bringen, vor allem aber um die Sonnenenergie optimal zu nutzen. Die Baumasse des Hauses speichert die Wärme und gibt sie die Nacht über kontinuierlich ab. Die Energiebedarfsberechnungen haben ergeben, dass 40 Prozent des Energiebedarfs dadurch abgedeckt werden. Zunächst waren die Gemeinde und der Kanton gegen die grosse Verglasung und verlangten eine Holzverschalung. Ich habe zu verstehen gegeben, dass ich keine zusätzliche Energie für die Heizung aufwenden möchte und mich weigere, die starke Sonneneinstrahlung am Bauplatz ungenutzt zu lassen. Diese Argumentation hat überzeugt, ich kann das Projekt wie gewünscht umsetzen.
Umbau eines Flarzhauses, Bauma (Foto: Philipp Stäheli)
Foto: Philipp Stäheli
Foto: Philipp Stäheli
Foto: Philipp Stäheli
Foto: Philipp Stäheli
Das finde ich spannend. Architekten, mit denen ich in den letzten Monaten über klimafreundliches Bauen gesprochen habe, haben von ganz unterschiedlichen Erfahrungen mit ihren Bauherren und den Behörden berichtet: Während zum Beispiel Hermann Kaufmann und Martin Haas sagten, Nachhaltigkeit würde neuerdings vermehrt eingefordert, meinte Patrick Lüth von Snøhetta, die meisten Entwickler würden weiter auf wenig zukunftsfähige Betonbauten setzen und die Politik unternehme nicht genug. Insgesamt gewinne ich den Eindruck, dass – wahrscheinlich auch angetrieben durch den politischen Diskurs und Initiativen wie Fridays for Future – ein langsamer Umdenkprozess in Gang gekommen ist.
Ich habe bei meinem Umbau in Bauma sehr gute Erfahrungen gemacht. Im Bewilligungsverfahren musste ich den Heimatschutz, der ursprünglich auf einen Holzschirm statt einer offenen Südfassade pochte, überzeugen, dass ich sozusagen die Gratis-Heizung nicht verschenken will. Dies wurde akzeptiert, ich durfte im Erdgeschoss eine gänzlich und im Obergeschoss eine halboffene Glasfassade einbauen.
Als ich die neue Bauherrschaft in Stäfa kennenlernte, war ich die junge Frau mit dem Lowtech-Ansatz, der man wenig zutraute. Doch meine Argumente haben überzeugt: Wir besichtigten gemeinsam das realisierte Projekt in Bauma, und plötzlich waren alle begeistert – zuerst die Tochter und dann die ganze Familie. Deren Bewusstsein für Nachhaltigkeit war von dem Moment an im ganzen Prozess voll da. Die Bauherrschaft hat zum Beispiel sofort kritisch nachgefragt, wenn keine Baufirmen aus der nahen Umgebung beauftragt wurden – es sei doch unökologisch, so weite Fahrstrecken in Kauf zu nehmen.
Erneuerbare Energieträger zu nutzen ist super, allein das macht aber ein Gebäude noch längst nicht nachhaltig. Deine wichtigsten Projekte in der Schweiz sind Umbauten, bei allen arbeitest du mit natürlichen Baustoffen wie Holz und Lehm. Ist das ein Vorgehen, das du auch in Kirgistan populär machen möchtest?
Danke, das ist eine sehr gute Frage. Wir haben in Kirgistan viel aufzuholen: Umbauten werden bei uns nicht gemacht, alles wird abgebrochen und neu gebaut. Es gibt viel weniger Wertschätzung für den Bestand als hier. Wenn ich meinen Kursteilnehmer*innen erzähle, dass ich in der Schweiz ein Haus umgebaut habe, das 1836 errichtet wurde, staunen sie. Das ist etwas völlig Neues für sie und schwer vorstellbar. Gerade wurde in Bischkek ein leerstehender Grossbau aus der Sowjetära mit imposanten Säulen und schönen Gewölben abgerissen. Er war architekturgeschichtlich wertvoll, seine Substanz war intakt – man hätte ihn leicht umbauen und neu nutzen können. Schade! Und als auf dem Grundstück, wo das erwähnte Haus für meine Familie entsteht, mehrere alte Schöpfe abgerissen wurden, bin ich auf Unverständnis gestossen, weil ich gebeten habe, wenigstens die Bretter aufzuheben, um sie ein zweites Mal zu verwenden.
Auch was natürliche Baumaterialien anbelangt, muss sich etwas ändern: Unser besagtes Haus musste ich als Betonbau planen – einfach, weil es vor Ort zum Beispiel im Holzbau keine ausreichende Expertise gibt. Das war sehr schwierig für mich, kein zweites Mal möchte ich so bauen müssen! Immerhin können wir filigrane Kassettendecken einbauen und so eine Menge Beton einsparen, denn anders als hier ist in Kirgistan die Arbeitskraft billig, das Material aber teuer.
Umbau einer Lagerhalle zum Wohnhaus, Stäfa (Fotomontage: Oekofacta)
Grundriss Erdgeschoss
Grundriss Dachgeschoss
Eben hast du gesagt, du seist zunächst die junge Frau gewesen, der man wenig zugetraut habe. Das bringt uns zu deinem Projekt «Bauen mit Frauen».
Ich habe ein Tiny House mit einem passiven Sonnenkollektor, der aus einer Stampflehmwand und einer Fensterbank aus schwarzem Granit besteht, entworfen. Mara, eine 22-jährige Psychologiestudentin, hat es voriges Jahr gebaut. Sie hat alles selber gemacht – von Zimmermanns- und Tischlerarbeiten bis hin zum Verlegen von Elektroleitungen und schweren Granitplatten.
Was war deine Motivation?
Ich habe in der Schweizer Bauwirtschaft als Frau keine schlechten Erfahrungen gemacht. Grundsätzlich nehme ich dieses Land als anspruchsvoll, aber fair wahr. Es gibt Vorurteile gegen Frauen, ja, aber für starke Argumente und Wissen wird man respektiert. In meiner Heimat ist das nicht so, die Lage ist aktuell viel schlechter: Traditionell war es üblich, dass Männer und Frauen gemeinsam gebaut haben; der Innenausbau von Jurten wurde sogar fast gänzlich von Frauen erledigt. Doch mit der Islamisierung ändert sich das gerade: Die Frauen werden aus dem öffentlichen Leben zurückgedrängt und haben sich mehr und mehr den Männern unterzuordnen. Ich finde das traurig!
Dann ist bestimmt nicht gern gesehen, dass du als Frau baust und junge Architektinnen unterrichtest.
Ja.
Trotzdem strahlst du eine sehr positive Energie aus. Du wirkst auf mich nicht wie jemand, der sich leicht aufhalten lässt.
Ich bekomme tolle Rückmeldungen von meinen Kursteilnehmer*innen. Sie sagen, ich solle die Inhalte zum Beispiel durch Publikationen noch mehr kirgisischen Architekturschaffenden zugänglich machen. Seit kurzem produzieren wir darum Unterrichtsvideos. Wenn ich sehe, wie das Wissen angenommen und angewendet wird, motiviert mich das sehr! Das Unterrichten macht mir ausserdem nicht nur Freude, sondern ich profitiere auch davon und lerne beim Vorbereiten der Lektionen viel. Und noch eine gute Nachricht: Gerade habe ich eine Anfrage von einem Investor bekommen, der in Kirgistan auf 45 Hektaren Land ein Eco Resort mit Permakultur bauen möchte. Er ist von meinem Portfolio begeistert, und wenn alles gutgeht, kann ich in Kürze mit den Planungen beginnen.
Danke für die spannenden Einblicke in deine Arbeit und deine Biografie. Ich hoffe, auch dein dritter Platz beim Foundation Award und unsere Aufmerksamkeit motivieren dich und zeigen dir, dass du mit deinem Engagement und deiner Architektur auf dem richtigen Weg bist.
Wir entdecken gern frische Talente, darum interviewen wir regelmässig junge Architekt*innen.