Allianz-Arena
15. Juni 2006
Die von den Basler Architekten Herzog & de Meuron entworfene ‹Allianz-Arena› in München ist bereits heute eine Ikone des aktuellen Stadionbaus. Zugleich drückt sie exemplarisch aus, wie sich der Fussballsport verändert hat: vom klassischen Spiel zum Event in einem kommerziellen Umfeld. Dabei war der Bau dieses neuen Stadions anfänglich gar nicht gesichert.
Ehe im Oktober 2002 der Grundstein für das Bauwerk gelegt werden konnte, tobte in der Münchner Öffentlichkeit ein jahrelanger Streit. Ausgelöst hatte ihn der Fussballclub FC Bayern im Herbst 1997 mit dem Beschluss, das weltberühmte, von Günter Behnisch und Frei Otto geplante Olympiastadion aus dem Jahr 1972 zu verlassen. Die unter den aufschwingenden Zeltdächern ins Gelände eingebettete Anlage erschien dem Club auch wegen der Leichtathletikbahnen nicht mehr zeitgemäss. Er verlangte eine reine Fussballarena: mit grösstmöglicher Nähe der Ränge zum Spielfeld, der Überdachung aller Plätze sowie dem Einbau lukrativer VIP- und Sponsorenbereiche. Dieses introvertierte Stadion sollte in der Peripherie entstehen. Als Leitbild diente der Emotionen verstärkende ‹Hexenkessel›.
Doch die Stadt München, die um ihre Einnahmen aus denFussballspielen fürchtete, erhob Einspruch. Sie schlug als Alternative vor, das alte Stadion ‹fussballgerecht› umzubauen. Als dann aber Günter Behnisch seine ersten Entwürfe mit einer neuen Steiltribüne vorlegte, bildete sich sogleich eine breite Opposition. Unter der Führung der Architektenschaft und der Medien bildete sich eine Bürgerinitiative zur Rettung der einzigartigen Münchner Olympialandschaft. Ihr Tenor: «Wir müssen Günter Behnisch davor bewahren, sein eigenes Meisterwerk zu zerstören.» Darum forderte auchdie Initiative einen Neubau. Ihre Strategie führte schliesslich zum Erfolg. Ende 2000 gab Behnisch auf einer Anhörungvon Experten entnervt zu, dass ein befriedigender Umbau seines Stadions unmöglich sei. Wolfgang Jean Stock
Eine Luftaufnahme des leeren Hexenkessels. Zum Kochen kommt er bei Vollbesetzung und einem spannenden Spiel.
Ein Stadion als Leuchtkörper
Dann ging es Schlag auf Schlag. Am Autobahnkreuz München-Nord wurde ein Standort für die neue Arena gefunden. Darauf präsentierten die zwei Münchner Grossvereine FC Bayern und TSV 1860, die als gemeinsamer Bauherr auftraten, für den Investorenwettbewerb acht Planungsteams von Generalübernehmern und Architekturbüros, darunter die österreichische Alpine-Bau mit Herzog & de Meuron. Im Oktober 2001 stimmten die Münchner bei einem Bürgerentscheid dem Neubau zu, einen Monat später waren HdM in der Endrunde. Im Februar 2002 entschied sich das Preisgericht für die Basler Architekten. Ihr Entwurf wurde in der Rekordzeit von 30 Monaten ausgeführt.
Markenzeichen der Sinnlichkeit
Dass Herzog & de Meuron den Sieg errangen, beruht auf einer klaren Grundidee: Ihr Bauwerk steigert die Funktionalität durch Sinnlichkeit in derart zugespitzter Weise, dass es in der Welt des Fussballgeschäfts als unverwechselbares Markenzeichen wahrgenommen wird. Wichtiger als der Inhalt ist die Erscheinung. Deshalb gibt es auch keine Übereinstimmung zwischen Innen und Aussen entsprechend der modernen Tradition, sondern die aufsehenerregende Umhüllung. Wie dieses silbern schimmernde, zuweilen wolkenartig wirkende Gebilde im Winkel der Autobahnen sitzt – diese Faszination ist einmalig. Das haben auch grosse Unternehmen begriffen, die ihre Produkte mit Vorliebe vor der neuen Arena fotografieren liessen.
Die äussere Hülle des Stadions, die von den rundum 840 Meter langen Fassaden homogen in die Dachflächen hineinschwingt, bilden fast 2800 rautenförmige Luftkissen. Deren lichtdurchlässige Membranen bestehen aus 0,2 Millimeter dünner ETFE-Folie (Ethylen-Tetrafluorethylen), einem neuen Werkstoff der bayerischen Firma Covertex, dersehr stabil ist, nicht brennbar, beständig gegen Hitze wie Kälte und sich durch Regen selbst reinigt. 19 Kissen können auf grosser Höhe zum Entrauchen oder Entwärmen geöffnet, ausserdem nach Süden und Westen hin die Akustiksegel unter der Dachhaut zurückgefahren werden, um den eigens entwickelten Rasen zu besonnen. Seinen Zauber entfaltet der von
Herzog & de Meuron beabsichtigte ‹Leuchtkörper› besonders nachts: Durch über 25.000 Leuchtstoffröhren in den Kissen lässt sich die Hülle bei Spielen in drei Farben illuminieren: Rot für den FC Bayern, Blau für den TSV 1860 München, neutrales Weiss in anderen Fällen.
Tagsüber präsentiert sich das Stadion in neutralem Weiss. Blau leuchtet es bei Spielen des TSV 1860 München, rot, wenn der FC Bayern München spielt.
Ingenieurtechnisches Meisterwerk
Die homogene Hülle verbirgt völlig den inneren Aufbau des Stadions, dessen Benennung als ‹Allianz-Arena› die gleichnamige Versicherung durch eine Zuwendung von mindestens 90 Millionen Euro über 15 Jahre hin erworben hat. Die eigentliche Arena steht nicht auf einem Keller, sondern auf einer Platte, die mit der Zugangsrampe für das allgemeine Publikum verbunden ist, das vor allem die 800 Meter entfernte U-Bahn-Station benutzt. Unter dieser Platte befindet sich die Sockelzone: Sie enthält die Funktionsebene für Polizei und Feuerwehr sowie den VIP-Zugang mit eigener Stadiongarage. In der Arena liegen zwischen den Tribünen und der Aussenhaut insgesamt sechs Ebenen, die für die geradezu ‹städtische› Infrastruktur sorgen.
Das Stadion ist auf Enge hin gebaut: Die drei steilen Ränge nahe dem Spielfeld, deren Steigung sich bis zu den baubehördlich noch erlaubten 34 Grad erhöht, bilden mit ihren66.000 Sitzplätzen unter dem Dach ein trotz seiner Grösse fast intim wirkendes Gefäss, in dem nichts vom Geschehen auf dem Fussballplatz ablenkt. Das gleichmässige Bild der grauen Schalensitze wird nur zwischen Mittel- und Oberrang durch eine rundum verglaste Zone unterbrochen. Dort sind die Lounges der Sponsoren eingeschoben und die 106 vermieteten Logen, die bis zu 240.000 Euro im Jahr kosten. Mit einer Ausnahme erinnern die Logen an übliche Hotelbarsoder an herkömmliche Bierstüberl – bloss das Betonwerk Godelmann hat sich von den Münchner Architekten Hild und K einen Raum gestalten lassen, der durch einen grünen ‹Grasparavent› auf den Ort Bezug nimmt.
Die Arena wartet mit mehreren Rekorden auf, darunter mit dem grössten Parkhaus Europas und der weltweit grössten Membranfassade. Ein ingenieurtechnisches Meisterwerk ist auch die tragende Konstruktion des Stadions. Die Dachlasten werden von 48 Stahlträgern nach aussen hin in die Stützen des Stahlbetonbaus eingeleitet. Diese radial angeordneten Hauptträger sind mit einem Stahlnetz überspannt, in das die Luftkissen ‹schwimmend› eingehängt wurden. Das betonierte Tragsystem für den ovalen Baukörper wurde durch komplizierte Berechnungen ermittelt.
Eine besondere Rolle spielen die 350 schräg stehenden Rundstützen, auf denen die Deckenkonstruktionen lagern. Der Luzerner Hersteller Varionorm hat die schlanken Stützen aus so genanntem Schleuderbeton mit höherer Verdichtung gefertigt. Die Betonpfähle können somit jeweils eine Last von bis zu 1000 Tonnen tragen.
Situationsplan des Stadions 1 am Autobahnkreuz mit den begrünten Dächernder Parkhäuser 2 und der U-Bahn-Station ‹Fröttmaning› 3 der Linie 6.
Höllenlärm im Hexenkessel
Herzog & de Meuron haben die Arena mit grossen Worten gepriesen. Als ‹Pilgerstätte für Fussballbegeisterte› käme sie einem Kulturbau gleich. Was früher Opernhäuser, ja Kathedralen gewesen seien, bedeuteten heutzutage Sportstätten. Diese hehren Vergleiche wurden bereits bei den Eröffnungsspielen widerlegt: Der ‹Hexenkessel› erwies sich als gespenstische Wahrheit. Besonders auswärtige Mannschaften wurden mit Pfeifkonzerten und Wutgesängen überzogen, die in dem geschlossenen Oval zu wahren Brüllorgien anwuchsen. Das Stadion als perfekte Kampfmaschine – selbst die Vertreter der Vereine zeigten sich nach Schlachtrufen wie «Ihr seid Scheisse!» sichtlich irritiert. Ein Verwaltungsrat betonte sogar, dass er dem offenen Olympiastadion mehr als eine Träne nachweine.
Die Aggressionen richteten sich beim zweiten Spiel auch gegen das Publikum in den VIP-Bereichen. «Ihr seid nur zum Fressen da!», hallte es den Funktionären und Geschäftsleuten entgegen, die angesichts der vielen leeren Sitze im VIP-Bereich das Spiel nur teilweise verfolgen mochten. So konnte man hautnah sowie hörbar erfahren, dass in den neuen, kommerziell aufgerüsteten Stadien das Gemeinschaftserlebnis Fussball einer Zwei-Klassen-Gesellschaft gewichen ist. Hier die Fans als lautstarke Anheizer, dort die lauen Geniesser eines Events. Die einen können in den Abfütterungsstationen Bier und Leberkäs kaufen, den anderen wird in den geräumigen Lounges und Logen kostenlos Prosecco und Lachsfilets auf Toastbrot gereicht.
Das privat finanzierte Stadion hat übrigens 340 Millionen Euro gekostet, während der Steuerzahler weitere 300 Millionen Euro für die zahlreichen neuen Verkehrsbauwerke berappt hat. Deutschland, selig Fussball-Land.
Grundriss des 6. Geschosses und Längsschnitt durch die Allianz-Arena.
66.000 gedeckte Sitzplätze fasst das Stadion: 20.000 im unteren Rang, 24.000 im mittleren Rang und 22.000 im oberen Rang.
Allianz-Arena
2005
München-Fröttmaning
Auftraggeber
Allianz-Arena München
Stadion GmbH
München
(FC Bayern und
TSV 1860 zu je 50 %)
Architektur
Herzog & de Meuron
Basel
Generalplaner
HVB Immobilien
München
Generalunternehmer
Alpine Bau Deutschland
München
Landschaftsplanung
Vogt
Landschaftsarchitekten
Zürich
Tragwerksplanung
Arup
Manchester
Sailer Stepan Partner
München
Kling Consult
Krumbach
Walter Mory Maier
Basel
IB Haringer
München
Fassadenplanung
R + R Fuchs
München
Gebäudetechnik
TGA Consulting
München
Verkehrsplanung
Kling Consult
Krumbach
Lichtplanung
Wernig Tropp Schmidt
München
Gesamtkosten
EUR 340 Mio.
Fotografie
Allianz-Arena