Einen Ort geschaffen

studio berardi miglio
8. Dezember 2022
Foto: Filippo Berardi
Frau Miglio, Herr Berardi, worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?


Lucia Miglio: Sie barg ganz viele Besonderheiten in sich, beginnend damit, dass eine karitative Organisation uns angefragt hat, ein Projekt für einen Neubau einer Dorfbildungsstätte an einem für uns unbekannten Ort zu planen, einem kleinen und sehr armen Dorf namens Bodgaun in Nepal. Es liegt etwa drei Autostunden nördlich der Hauptstadt Kathmandu.

Eine besondere Herausforderung waren die Tatsachen, dass wir den Ort vorab nicht besichtigen konnten und dass die finanziellen Mittel gering, die Planungs- und Realisierungszeit knapp bemessen und das Verständnis fürs Bauen und die Baukultur vor Ort sehr bescheiden waren. Die Häuser in der Umgebung sind mit einfachsten Mitteln im Eigenbau entstanden, und in der abgelegenen Region fehlt jegliche Art von Infrastruktur. Besonders herausfordernd gestalteten sich auch die Suche nach qualifizierten Fachkräften und die Beschaffung geeigneter Baumaterialien. 

Diese vermeintlichen Einschränkungen waren der Grundstein für die Entwicklung unseres prägnanten städtebaulichen Konzepts, in dem der Schlüssel zum Gelingen dieses Projektes liegt.

Filippo Berardi: Wir profitierten von unserer Liebe zum einfachen Bauen und einer soliden Konstruktion der einzelnen Teile, die zusammen das grosse Ganze bilden. So entstand um eine offene Mitte ein Ring mit fünf Gebäudekörpern, die die neuen Nutzungen beherbergen, vom Kindergarten über den Jugendclub bis hin zum Ausbildungsinstitut, der Mensa und dem Freiwilligenwohnheim.

Foto: Filippo Berardi
Foto: Filippo Berardi
Welche Inspiration liegt diesem Projekt zugrunde?


FB: Bei diesem spezifischen Projekt haben wir nicht direkt auf architektonische Referenzen zurückgegriffen, vielmehr stand der soziale Aspekt im Mittelpunkt und damit verbunden die Frage, was wir für die Bewohner*innen Bodgauns und für die Region nachhaltig bauen können.

Um 150 Kindern eine Ausbildungsstätte und freiwilligen Betreuer*innen ein angemessenes Zuhause bieten zu können, entstand die Konzeptidee des Dorfes im Dorf. Davon abgeleitet sind die essenziellen Grundbausteine für unser Projekt mehrere Gebäudekörper, Zwischenräume und ein öffentlicher Platz. In Analogie zu einem «Ringel-Reihe-Kreis» stehen die fünf Häuser mit geringem Abstand beieinander. Die dadurch gebildeten Zwischenräume erlauben Durchblicke von aussen nach innen und umgekehrt in die atemberaubende Umgebung.

LM: Nach aussen strahlen die Häuser mit ihrer himmelblauen Farbe weit über die dörfliche Struktur hinaus, nach innen bilden sie einen gemeinsamen, zentralen, offenen Platz, der als Theater und Aufenthaltsort für die ganze Gemeinschaft dient. Verschiedene Niveaus, Laubengänge und überdachte Bereiche schaffen räumliche Differenzierungen. Akzentuiert werden diese durch die erdige, goldgelbe Farbgebung bestimmter Bauteile wie der Untersichten, Stützen und einiger Wandstücke.

Foto: Filippo Berardi
Foto: Filippo Berardi
Wie hat der Ort auf den Entwurf eingewirkt?


LM: Der Ort ist eher ein Unort. Er ist eingebettet in eine eindrucksvolle Landschaft mit einer grünen Ebene und Bergen, aber im näheren Umfeld gibt es keine erkennbare städtebauliche Struktur oder eine nachvollziehbare Ordnung. Wir mussten also mit dem Projekt selbst einen Ort erschaffen. 

FB: Die neue Bildungsstätte ist prägend durch ihre Form und Farbe. Sie ist von weitem sichtbar. Im Gegensatz dazu steht der intime, geschützte Raum als neuer Ort des Zusammenkommens in der Mitte der Anlage, ähnlich einem Gefäss für die Gesellschaft.

Foto: Filippo Berardi
Foto: Filippo Berardi
Gab es bedeutende Projektänderungen vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Bauwerk?


FB: Es war von Anfang an klar, dass der Bau ohne unsere gestalterische Leitung umgesetzt werden würde. So war der Schritt vom Geplanten zum Gebauten gewissermassen eine Unbekannte, massgeblich abhängig von den Beteiligten vor Ort. Unsere Ausführungspläne dienten als Grundlage, aber hier und dort wurde dies und das aus verschiedenen Gründen anders ausgeführt. Wir wurden mit Foto- und Bildmaterial auf dem Laufenden gehalten, der Bau der Anlage blieb für uns jedoch bis zur Bauvollendung ein Krimi.

LM: Einige Zeit nach Fertigstellung hatten wir die Möglichkeit, während der Lockerung der Corona-Massnahmen vor Ort zu reisen und uns selbst ein Bild vom Entstandenen zu machen. Das war ein bewegender Moment. Unsere Hoffnung bestätigte sich: Die Grundkonzeption und die Designidee waren stark genug, um die ungeplanten baulichen Abweichungen in sich aufnehmen zu können.

Foto: Filippo Berardi
Welches Produkt oder Material hat zum Erfolg des vollendeten Bauwerks beigetragen?

 

LM: Der Entwurf der Bildungsstätte erfolgte im Wissen um die beschränkte Auswahl von Baumaterialien, die vor Ort zur Verfügung standen. Gleichzeitig mussten diese kostengünstig eingesetzt werden, und wir mussten eine gute Erdbebensicherheit gewährleisten. Aus diesen Gründen fiel unsere Wahl auf eine Konstruktion aus Stahlbetonstützen mit Ausfachungen aus vorfabrizierten Elementen, aufgesetzt auf einem umlaufenden Betonsockel von 45 Zentimetern Höhe.

FB: Der Erfolg des Bauwerks liegt nicht in erster Linie in einer ausgefallenen Produkt- oder Materialwahl begründet. Vielmehr ist es die einfache, solide Bauweise mit gewissen Besonderheiten wie der intensiven Farbgebung und der bewusst geformten Dachlandschaft mit einseitiger Neigung und Dachvorsprüngen zum Schutz der Konstruktion vor dem Monsunregen und als Schattenspender in heissen Monaten, aus der die Anlage ihre Kraft gewinnt.

Situation
Grundriss Erdgeschoss
Grundriss Obergeschoss
Schnitt
Bauwerk
The School of Social Development
 
Standort
Sipaghat Marg, Bodgaun
Sindhupalchowk-Region, Nepal
 
Nutzung
Ausbildungsstätte und Freiwilligenwohnheim
 
Auftragsart
Direktauftrag
 
Bauherrschaft
Jay Nepal Action Volunteers
 
Architektur
studio berardi miglio, Zürich
Filippo Berardi und Lucia Miglio
 
Fachplaner
Bauingenieure Ing. Abinash Bhattarai, Kathmandu, Nepal
 
Bauleitung
Ing. Abinash Bhattarai, Kathmandu, Nepal
 
Jahr der Fertigstellung
2022
 
Gebäudekosten BKP 2 
100'000 CHF
 
Gebäudevolumen
1200 m3 (gemäss SIA 116), Geschossfläche 400 m2 (SIA 416) 
 
Fotos
Filippo Berardi

Vorgestelltes Projekt

fsp Architekten AG

Lokwerk Aufstockung Winterthur

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