Austarieren von Alt und Neu
Aita Flury und Giger Nett Architekten
7. de maig 2020
Die Eingriffe aus den 1970er-Jahren blieben teilweise erhalten und prägen die äussere Gestalt.
(Foto: Jürg Zimmermann)
Aita Flury und Giger Nett Architekten haben ein Wohnhaus in Wettingen umgebaut. Die Architektin erklärt das entwerferische Denken, unter anderem das Verhältnis zwischen Alt und Neu.
Worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?
Bei der Bauaufgabe handelt es sich um die Anpassung eines Wohnhauses aus dem Jahr 1903, das bereits 1970 verändert wurde, an heutige Wohnbedürfnisse einer jungen Familie. Mit jedem Umbau, unabhängig von seiner Grösse, geht die Auseinandersetzung mit der grundlegenden Frage nach der Beziehung zwischen Alt und Neu einher. Es geht dabei stets darum, wie respektvoll sich ein Projekt dem Bestand, dem traditionell Vorhandenen nähert, dieses aufnimmt und es gleichzeitig transformiert. Oder wie es Hermann Czech einst formuliert hat: «Die Fortsetzung des Vorhandenen besteht in der Bildung einer neuen Einheit auf höherer Ebene.» Diese ist nicht explizit: Das Neue steht nicht neben dem Alten, es wächst vielmehr daraus hervor, ist mit diesem aufs Engste verwoben.
Schwebendes Podest und tektonisches Fenstergewände als neue Verschränkungselemente zwischen Haus und Garten (Foto: Jürg Zimmermann)
Leichte Verschiebungen des Verhältnisses zwischen Wand und Öffnung tarieren die Fassade neu aus. (Foto: Jürg Zimmermann)
Welche Inspirationen liegen diesem Projekt zugrunde?
Der Entwurf integriert sowohl die Originalsubstanz als auch die späteren, additiven Eingriffe aus den 1970er-Jahren. Während aussen nur leicht justiert wurde, haben wir innen neu formuliert: Im Erdgeschoss ist der Mittelkorridor, welcher den fast quadratischen Grundriss zonierte, zugunsten eines offeneren Raumgefüges praktisch aufgelöst. Ein neuer Unterzug aus Holz, der auf einer kräftigen Holzstütze aufliegt, fängt das 1. Obergeschoss statisch ab und lässt gleichzeitig die ehemalige Zellenstruktur aufscheinen. Die Stütze selber wird zum zentralen Motiv des offenen Ess-Wohnraums. Der Raumeindruck im Stockwerk darüber wird durch die Aufweitung des Mittelkorridors zu einer offenen Spielzone im Süden dynamisiert.
Neue Stütze und Unterzug als ordnende Elemente des Ess-Wohnraumes – die ehemalige Zellenstruktur scheint auf. (Foto: Jürg Zimmermann)
Wie hat der Ort auf den Entwurf eingewirkt?
Grundsätzlich dreht sich jeder Entwurf um die Verhandlung der Fragen nach Ruhe versus Dynamik, Offenheit versus Geschlossenheit, Isolations- versus Verschränkungsgrad. Wie gross dürfen Öffnungen sein, damit die Wand optisch noch stabil ist? Welche Elemente sind in diesem Sinne möglich, um den Verschränkungsgrad von Innen und Aussen zu erhöhen? Im Erdgeschoss bildet neu ein schwebendes Betonpodest in Kombination mit einem Schiebefenster mit umlaufendem Gewände den dezenten Zugang zum Garten. Obwohl es sich in Art und Grösse von den bestehenden Sprossenfenstern aus den 1970er-Jahren deutlich unterscheidet, wirkt es nicht fremd. Das Haus wird dadurch individualistischer, ohne eine gewisse Tradition zu verlassen – es bleibt dem Grundton des Bestandes verpflichtet.
Fensterelemente, Tragwerk und Einbaumöbel werden zu einer Einheit miteinander verwoben. (Foto: Jürg Zimmermann)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren Nutzer*innen den Entwurf beeinflusst?
Wichtigste Voraussetzung für die bis ins Detail stringente Umsetzung eines Entwurfs in einem solch kleinen, privat-intimen Massstab ist eine Bauherrschaft, die auf hohem Niveau an räumlichen Fragen interessiert ist und eine entsprechende Sensibilität und Offenheit mitbringt. Der Raumeindruck bei solchen Eingriffen wird stark von den Einbaumöbeln, der Küchengestalt, von den Farben und Materialien geprägt – lauter hochsensible Kompetenzgrenzgebiete!
Die Proportionen der an alter Stelle neu formulierten Treppe stehen in direkter Relation zu den sie umgebenden Elementen. (Foto: Jürg Zimmermann)
Foto: Jürg Zimmermann
Beeinflussten aktuelle energetische, konstruktive oder gestalterische Tendenzen das Projekt?
Das Projekt ist wohl eher anachronistisch… Nachhaltigkeit wird in der räumlichen Stärkung einer Einzelbaute eines historischen Quartiers gesucht, dessen Ensemblewert aber noch nicht erkannt worden ist. Die statisch-konstruktive Formfindung spielte für das Raumkonzept eine zentrale Rolle und wurde nur durch kluges, die Kulturgeschichte integrierendes Ingenieurdenken möglich. Die Einbaumöbel stehen als wesentliche Bestandteile des «Raumplans» auch nicht für die heutige Tendenz zu Flexibilität und Neutralität im Wohnbau. Vielmehr suchen sie das Bestimmte.
Situation
Grundriss Erdgeschoss
Grundriss 1. Obergeschoss
Grundriss Dachgeschoss
Schnitt A
Schnitt B
«Haus Segat»
Standort
Feldstrasse 4, 5430 Wettingen
Nutzung
Einfamilienhaus
Auftragsart
Direktauftrag
Architektur
Aita Flury, Zürich
Giger Nett GmbH, Zürich
Aita Flury, Nicola Nett
Fachplaner
Conzett Bronzini Partner Ingenieure AG, Chur
Jahr der Fertigstellung
2019
Massgeblich beteiligte Unternehmer
Schreiner: von Büren + Sommer AG, Berg
Fotos
Jürg Zimmermann