Sound of Silence

Susanna Koeberle
6. 二月 2020
Installation und Performance «Breathe With Me» von Jeppe Hein (Foto: Katalin Déer, Engadin Art Talks)

«The Sound of Silence» hiess ein Song von Simon & Garfunkel aus dem Jahre 1964. Er hätte zu den Engadin Art Talks, die heuer zum neunten Mal in Zuoz stattfanden, bestens gepasst, schliesslich lautete das Motto der diesjährigen Ausgabe «Silent – Listen». Hören wir also hin: «Hello darkness, my old friend» heissen die ersten Worte des eben erwähnten Songs. Um neue Freunde zu machen, muss man nicht an die E.A.T., eher kommt man, um alte Freunde zu sehen; der Mensch bleibt eben ein Gewohnheitstier. Oder aber man erkauft sich den Titel «friend» mit der Zahlung von 700 Franken, darin sind nebst der Teilnahme an den Vorträgen auch zwei Nacht- und ein Mittagessen inkludiert. Die Namen dieser «Freude» werden dann im Programmheft erwähnt. Solche Beträge sind für viele Interessierte abschreckend, auch wenn der Preis für die Teilnahme als Zuhörer*in tiefer liegt (die Journalistin war eingeladen). Wer es nicht an die «Top of the World»-Destination schafft, kann die Vorträge der Referent*innen immerhin online anschauen – das ist wichtig, sonst verkommt der Anlass definitiv zum Insider-Event für Bessergestellte und Kunst-VIPs. 

Das Thema «Silent – Listen» versprach viel, und auch das Line-up der geladenen Speaker*innen war beachtlich – notabene wurden die meisten wohl eingeflogen (wer weiss, vielleicht nahm doch jemand den Zug?). Fakt ist: Es gab dieses Jahr eine einzige Rednerin aus der Schweiz, die Architektin Jeanette Kuo (quasi eine Doppelquotenfrau?). Damit will ich nicht die Nationalität der Beteiligten kritisieren, sondern eher die Absurdität der Tatsache ansprechen, dass man über ein Dutzend Leute aus allen Ecken der Welt einlädt und dann über die aktuelle Klimakrise und über fehlende Taten diesbezüglich debattiert. Aber eben – wie heisst es so schön bei Matthäus 7?: «Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.» Zurück zum Thema des Forums also.

Die Kurator*innen der E.A.T.: Daniel Baumann, Philip Ursprung, Bice Curiger, Hans Ulrich Obrist und Cristina Bechtler, von links nach rechts. (Foto: Katalin Déer, Engadin Art Talks)
Stille kann klingen

Die beiden Begriffe «silent» und «listen» sind nicht nur inhaltlich «Freunde» (etymologisch allerdings nicht verwandt), die sechs Buchstaben der beiden Worte sind exakt dieselben. Wir haben es also mit einem Anagramm zu tun. Was kann man damit anfangen? Nun, die Dichotomie und gegenseitige Abhängigkeit der beiden Begriffe liefert Stoff für philosophische Überlegungen. Unsere Fähigkeit oder besser gesagt Unfähigkeit zu schweigen und zuzuhören, hängt zweifelsohne auch mit der Schwatzhaftigkeit unserer Zeit zusammen. Nicht nur leben die meisten Menschen in lauten Umgebungen, es gibt auch im übertragenen Sinne viel Lärm um uns. Die Flut an Informationen, Klängen und Bildern überfordert unsere Aufnahmefähigkeit, das hat auch einen Einfluss auf unsere Aufmerksamkeit. Eigentlich müssten wir uns nach Stille sehnen. Doch Stille kann auch Angst auslösen; es sei eben auch ein unangenehmes Thema, erinnerte Bice Curiger in ihrem Keynote-Vortrag ganz zu Beginn der Veranstaltung. «Sound of Silence» steht wie im Lied von Simon & Garfunkel auch für Einsamkeit und ein Gefühl des Verlorenseins. 

Gerade die Bergwelt, die an den E.A.T. immer wieder als Topos bemüht wird (es war die Rede von «openness of the alpine world»), hat ihren eigenen Sound: einen stillen. In die Nacht hinauszugehen und dieser Stille («stillness») und Ruhe («quietness») zu lauschen, dazu rief der englische Komponist und Klangforscher Chris Watson auf. Sein Beitrag war einer der faszinierendsten und machte deutlich, wie wertvoll und bereichernd (intellektuell meine ich) gerade der interdisziplinäre Ansatz dieser Veranstaltung ist. Dass wir hören können, sei evolutionstechnisch ein wichtiger Faktor für unsere Entwicklung gewesen, erklärte er. Wir erkennen Gefahren auch akustisch. Für ihn als Komponist gebe es «silence» schlichtweg nicht. Bice Curiger verwies zuvor auch auf eine Komposition von John Cage (1912–1992) aus dem Jahr 1952, ein Stück, das aus 4 Minuten 33 Sekunden Stille besteht. Da hört man eben dennoch einiges, einfach nicht das Erwartete.

Mit dem Komponisten Chris Watson reiste man in die Unterwasserwelt. (Foto: Katalin Déer, Engadin Art Talks)

Watson führte atemberaubende Aufzeichnungen von verschiedenen Meereslebewesen vor, die er mittels eines Hydrophons, eines Unterwassermikrophons, im Meer aufgenommen hatte. Als er erstmals solche Aufnahmen machte, realisierte er, dass der Mythos der stillen Unterwasserwelt absoluter Nonsense ist. Und noch etwas: «Wir leben nicht auf planet earth, sondern auf planet ocean», so Watson, die Meere seien nämlich das grösste Habitat auf unserem Planeten. Darin leben Tiere, die unglaublich intelligent sind und über Hunderte von Kilometern miteinander kommunizieren können. Wir Menschen würden uns derweil mit Mehrwertsteuern und dem Brexit beschäftigen, liess er mit feinem britischem Humor verlauten. Es ist eine wunderbare Begabung, eine Laienzuhörerschaft so in den Bann zu ziehen. Dafür braucht es manchmal ganz wenig. Leider ist diese Fähigkeit nicht allen gegeben, sodass es bei einigen Darbietungen etwas anstrengend war, den Bewegungen der in Reden gefassten Hirnwindungen der Vortragenden zu folgen, auch wenn man noch so gut zuhörte.

Die Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft hat nicht nur mit der rhetorischen Begabung der Vortragenden zu tun, sondern auch mit der Dramaturgie eines Events, das wurde auch an den E.A.T. deutlich. Nach der Teilnahme an der partizipativen Performance von Jeppe Hein «Breathe With Me» in der Mittagspause, die der dänische Künstler auch schon mit verschiedenen Politiker*innen oder an der UNO durchgeführt hatte, war man zwar erquickt. Doch sowohl der Abenteurer, professionelle Spazierer, Sammler und Autor Erling Kagge, der Philosoph und Botaniker Emanuele Coccia wie auch der Künstler Charles Gaines konnten als Redner nicht überzeugen. Es mangelte an einem kuratierten Ablauf; darin sollten die Veranstalter*innen und Kurator*innen allerdings nach zehn Jahren Übung haben. Die zwar durchaus interessanten, aber eben nicht optimal vorgetragenen Referate wurden am ersten Tag durch die hinreissende Lecture Performance der englischen Künstlerin Marianna Simnett wettgemacht. Sie hat übrigens zurzeit eine Ausstellung in der Kunsthalle Zürich. Diese kann zwar äusserst verstörend wirken, ist aber zugleich absolut elektrisierend.

Die Lecture Performance der englischen Künstlerin Marianna Simnett war einer der Höhepunkte der E.A.T.. (Foto: Katalin Déer, Engadin Art Talks)

Simnett trat an den E.A.T. in einem Rabenkostüm auf und verstrickte ausgehend vom Titel ihrer Performance «Birds scream at the top of their lungs in horrified hellish rage every morning at daybreak to warn us all of the truth, but sadly we don't speak bird» verschiedene Narrative miteinander, die Stimme, Verstummen oder Verstümmelung zum Thema hatten. Da kam Philomela vor (eine Figur aus der griechischen Mythologie), die vergewaltigt und ihrer Zunge beraubt, sich zusammen mit ihrer Schwester Prokne an ihrem Peiniger rächt. Oder die kleine Meerjungfrau aus dem Märchen von Hans Christian Andersen (1805–1875), die ihre Stimme opferte, um die Liebe eines Prinzen zu gewinnen. Da ihr dies nicht gelang, wurde sie zu Meeresschaum. Dann spielte die Künstlerin Aufnahmen ihrer durch Hyperventilation selbst herbei geführten Ohnmacht vor, die an ein Erlebnis ihres Grossvaters erinnern soll, der dank eines Ohnmachtsanfalls der Erschiessung während des Holocausts entging. Die Erzählungen wurden durch Vogelklänge und das Spiel der Künstlerin auf der Querflöte unterbrochen. Das ergab zusammen ein so dichtes Netz an Erlebnissen, Bildern, Klängen und Vorstellungen, dass man darob fast selber wegkippte – im positiven Sinne. Es war die Verletzlichkeit und Offenheit jenseits von Bergkitsch und Blabla, welche diese Darbietung zu einem Glanzlicht der E.A.T. machte. Sie führte zugleich die erschreckenden und gewalttätigen Seiten von Schweigen vor.

Spirituelle Stille

Eine etwas positivere Seite von Stille kam im Vortrag der mexikanischen Architektin Tatiana Bilbao zum Vorschein. Sie erzählte von einem Auftrag für eine Zisterzienser Gemeinschaft in Österreich. Zuerst musste sie verstehen, wie sich das Leben in der Abtei abspielt und welche räumliche Bedürfnisse die Lebensweise mit sich bringt. Sie lernte dabei auch vom bestehenden Bauwerk aus dem 12. Jahrhundert, das all diese Elemente schon enthalte, erklärte sie. Sehr einleuchtend machte sie anhand der grösser werdenden Radien oder Schichten von Körperlichkeit (das Kleid der Mönche, die Zellen sowie schliesslich die gemeinschaftlich geteilten Räume) deutlich, welche unterschiedlichen Arten von Intimität und Öffentlichkeit in dieser Welt herrschen. Das Gleichgewicht zwischen diesen verschiedenen physischen Realitäten mache die Kraft dieser Lebensform aus. «Auch wir Städter können von Klöstern lernen», folgerte die Architektin daraus. Denn in jedem Leben geht es schliesslich um das Zusammenspiel von individuellen und kollektiven Bedürfnissen. Diese Bauaufgabe veränderte auch ihre Haltung zu Stille: Sie verstand, dass diese für Zisterzienser die reinste Form von Liebe darstellt. Sie ermögliche auch die höchste Form von Intimität. Diese Einsicht präge seither auch ihre Entwurfshaltung als Architektin, sagte Bilbao. 

Der Arbeit der mexikanischen Architektin Tatiana Bilbao ist aktuell eine Ausstellung im Louisiana Museum of Modern Art gewidmet. (Foto: Katalin Déer, Engadin Art Talks)

Nach den Vorträgen bedankten sich die Redenden jeweils fürs Zuhören. Was sonst selbstverständlich ist, erschien an den E.A.T. in einem neuen Licht. «Wir müssten aufeinander hören» resümierte Kurator Daniel Baumann am Ende der Talks. Er liess es sich nicht nehmen, eine kritische Bemerkung zum zuletzt vorgestellten Projekt abzuliefern. Der geladene Cyrill Gutsch schickte eine Videobotschaft aus New York. Der Mitbegründer von «Parley for the Oceans», Reiner Opoku, sprang für den Abwesenden ein und stellte eines der «Parley for the Oceans»-Projekte vor. Die Unterwasser-Pavillons des Künstlers Doug Aitken wurden im Meer bei einer privaten Insel auf den Malediven versenkt und sollen dadurch zum «Symbol für die Zerstörung der Ozeane werden». «Das sei wohl etwas für Superreiche», meinte Baumann mit einem Lächeln. Überlassen wir das Schlusswort Simon & Garfunkel: «The words of the prophets are written on the subway walls and tenement halls. And whisper'd in the sounds of silence.»

Auch der Neurologe Wolf Singer gehörte zu den Rednern. Hier sieht man ihn atmen und malen an der Jeppe Hein-Performance. (Foto: Katalin Déer, Engadin Art Talks)

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