Der Natur entnommen: Die Kunst von Michelle Stuart

Susanna Koeberle
3. Juni 2024
In den unteren Räumen von Angela Deubers Büro sind frühe Arbeiten der Künstlerin Michelle Stuart ausgestellt. (Foto: © Schaub Stierli Fotografie / Archive ADA x)

Es ist eine altbekannte Geschichte. Doch sie sei an dieser Stelle dennoch erzählt. Denn die Geschichte handelt vom Vergessen, genauer gesagt von vergessenen oder nicht gebührend rezipierten Künstlerinnen. Es ist frappant, wenn nicht sogar erschreckend, wie viel es bezüglich der Aufarbeitung von weiblichen Positionen noch zu tun gibt. Eine Unbekannte ist Michelle Stuart freilich nicht. Die Arbeit der 1933 in Los Angeles geborenen Künstlerin wurde allerdings mehrheitlich in den USA rezipiert. Sie war zwar 1977 an der Kunstausstellung «documenta 6» und 2017 an der Biennale von Venedig vertreten, doch mit Ausnahme der Ausstellung «Drawn from Nature» im Jahr 2013 im britischen Nottingham wurden ihr museal angelegte Retrospektiven in Europa bis anhin nicht zuteil. Das ist umso erstaunlicher, als Michelle Stuart als Pionierin in der Verwendung von organischen Materialien wie Erde, Wachs, Samen oder Pflanzen in der Kunst gelten darf. Diese Praxis verband sie zusätzlich mit einem anthropologischen Ansatz. Gerade das Transdisziplinäre sowie die ökopolitische Dimension ihrer Arbeit sind heute besonders aktuell.

Im oberen Stockwerk des von Angela Deuber umgebauten Altstadthauses sind unter anderem die Serien «Extinct» und «Seed Calender» zu sehen. (Foto: © Schaub Stierli Fotografie / Archive ADA x)

Nach ihrem Kunststudium sammelte sie in den 1950er-Jahren erste berufliche Erfahrungen als Kartografin für ein Architektur- und Ingenieurbüro. Ihre Tätigkeit bestand darin, fotografische Luftaufnahmen von Landschaften in Zeichnungen zu übertragen. Dieser Hintergrund und auch ihr späteres Studium der Anthropologie und Archäologie prägten ihre künstlerische Herangehensweise stark. Ihre vielfältigen Interessen widerspiegeln sich etwa in ihren «Moondrawings», die sie 1969, also im Jahr der Mondlandung, auf Basis von NASA-Fotografien erstellte. In den folgenden Jahren verlagerte sich Stuarts Interesse auf die Landschaft unseres Planeten. Sie begann, grosse Arbeiten mit Erdpigmenten zu realisieren. Auf ihren ausgedehnten Reisen sammelte sie Erde sowie andere organische Materialien und verarbeitete diese Fundstücke später in ihren Kunstwerken. Häufig arbeitete Stuart auch vor Ort und fertigte grossformatige Grafit-Frottagen von Landschaften an. Dabei ging es ihr auch darum, die Kontrolle abzugeben und zuzulassen, dass die Landschaft zur Akteurin wird. Zugleich waren diese Prozesse für die Künstlerin sehr arbeitsintensiv und körperlich anstrengend.

Die fotografische Arbeit «Event Horizon» stammt aus dem Jahr 2013. (Foto: © Schaub Stierli Fotografie / Archive ADA x)

Die Gelegenheit, solche und spätere Werke dieser faszinierenden Künstlerin zu sehen, haben Interessierte dank Angela Deuber nun auch in Zürich. Die Architektin entdeckte die Arbeit von Michelle Stuart anlässlich eines Besuchs bei der Kunststiftung Dia:Beacon Foundation in Beacon im US-Bundesstaat New York. Sie sei sofort angetan gewesen von der Monumentalität und physischen Präsenz der ausgestellten Werke; deswegen habe sie Michelle Stuart gleich nach ihrem Museumsbesuch kontaktiert und sie kurz darauf in ihrem Atelier besucht, erzählt Deuber bei unserem Gespräch in der Ausstellung. Aus dieser Begegnung entstand ein Austausch zwischen den beiden Frauen, nicht zuletzt, weil Stuart Schweizer Wurzeln hat. 

Das Werk der amerikanischen Künstlerin resoniert stark mit der Arbeit der Bündner Architektin. Das Thema Natur und Pflanzen interessiert Angela Deuber schon länger und inspiriert sie in ihrer Arbeit als Architektin und Pädagogin. Ausgangspunkt für die Ausstellung «Marking Time», die in Zusammenarbeit mit der Künstlerin und der New Yorker Galerie Lelong & Co. entstand, bildet Deubers persönliche Begeisterung für das Œuvre von Michelle Stuart. In den von Angela Deuber umgebauten Altstadträumen, wo sich gleichzeitig ihr Architekturbüro befinden, erschliesst sich das komplexe und multimediale Werk der Künstlerin über zwei Stockwerke. Die Arbeiten sind nicht nur überirdisch schön, sie sensibilisieren auch auf subtile Weise für die Bedrohung dieser Schönheit.

Der  Projektraum ADA x liegt unweit des Kunsthaus Zürich. (Foto: © Schaub Stierli Fotografie / Archive ADA x)

Während der Woche des «Zurich Art Weekend» ist der Projektraum ADA x an folgenden Tagen geöffnet:

Montag, 3. Juni, bis Donnerstag, 6. Juni: 10–18 Uhr
Freitag, 7. Juni: 11–21 Uhr
Samstag, 8. Juni: 11–20 Uhr
Sonntag, 9. Juni: 11–18 Uhr

Andere Artikel in dieser Kategorie