Kluge Weichenstellung
Elias Baumgarten
17. 12月 2021
Foto © Murdo Macleod
Lesley Lokko, ghanaisch-schottische Architektin, Lehrerin und Schriftstellerin, wird Kuratorin der 18. Architekturbiennale von Venedig. Warum das richtig ist.
«Speaking to you from the world’s youngest continent, I would like to thank President Cicutto and the entire team of La Biennale di Venezia for this bold, brave choice.»
Eine «kühne, mutige Entscheidung» nennt Lesley Lokko ihre Wahl. Klingt fast selbstverliebt. Doch die Worte sitzen: Unsere Disziplin hat nach wie vor ein Diskriminierungsproblem. Im Rampenlicht drängen sich Gestalter aus westlichen Ländern und Japan (ja, zumeist Männer, immer noch). Selten nur erhalten Architekturschaffende aus anderen Kulturkreisen Sichtbarkeit. Das gilt auch für die Biennale, die vielleicht weltweit wichtigste Architekturausstellung. Seit 1980 wurde sie nur zweimal von Frauen kuratiert: von Kazuyo Sejima nämlich sowie von Yvonne Farrell und Shelley McNamara. Und eine Biennale unter afrikanischer Leitung gab es überhaupt noch nie.
Auch Lokko musste Erfahrungen mit Diskriminierung machen: Ihre Position als Dekanin der Bernard and Anne Spitzer School of Architecture in New York gab sie nach nur zehn Monaten auf – wegen des «Mangels an Respekt und Einfühlungsvermögen für Schwarze, insbesondere für schwarze Frauen», wie sie die Süddeutsche Zeitung zitiert, und aus «Selbstschutz», wie unser New Yorker Redaktor John Hill weiss. Doch ist Lokko auch abgesehen von der politischen Dimension eine gute Wahl? Die Antwort ist ein klares Ja. Sie ist nicht nur eine starke Architektin, sondern auch eine erfahrene Lehrerin und grossartige Intellektuelle. Lokko hat bereits an zahlreichen Hochschulen unterrichtet: an der Bartlett School of Architecture, der Kingston University und der London Metropolitan University; dazu an der Iowa State University und University of Illinois sowie der University of Johannesburg, der University of Cape Town und der UTS in Sydney. Für ihre Lehrtätigkeit wurde sie unter anderem mit dem RIBA Annie Spink Award for Excellence in Education (2020) und dem AR Ada Louise Huxtable Prize for Contributions to Architecture (2021) ausgezeichnet. Lokko gründete zudem Architekturfakultäten in Johannesburg und Accra (African Futures Institute).
Überaus beeindruckend ist ausserdem ihre publizistische Tätigkeit. Neben ihrer Arbeit als Architektin und Lehrerin ist Lokko Schriftstellerin – eine höchst erfolgreiche wohlverstanden. 2004 erschien mit «Sundowners» ihr erster Roman. Viele weitere Bücher folgten, von denen einige Bestseller wurden. 2023 soll ihr dreizehntes Werk erscheinen: «The Lonely Hour». Kultur, «Rasse» und Raum sind für Lokko wesentliche Themen. Das zeigt sich exemplarisch an ihrer Publikation «White Papers, Black Marks: Race, Space and Architecture». Darüber hinaus ist Lokko auch Architekturjournalistin und -kritikerin: Als Gründerin und Chefredaktorin verantwortet sie das Magazin FOLIO: Journal of Contemorary African Architecture.
Lesley Lokko hat bereits Erfahrung mit der Biennale: Sie gehörte jüngst der Jury an, die die Goldenen Löwen an der 17. Auflage vergab. Die Entscheidung für eine so intellektuelle Architektin mit derart internationalem Hintergrund ist gerade jetzt in Zeiten des Umbruchs und der Krisen hervorragend. Weil sich Lokko nicht allein für die Architektur begeistern kann, sich sehr engagiert und auch in anderen Bereichen erfolgreich ist, repräsentiert sie die Art von Gestalter*innen, die wir jetzt besonders dringend brauchen. Doch was dürfen wir von der neuen Kuratorin erwarten? Ungleichheit und Ungerechtigkeit, Wohnungsnot, die Klimakatastrophe, der Kampf um Schlüsselrohstoffe, die Corona-Pandemie, die Veränderung des weltpolitischen Machtgefüges durch Chinas Stärke, die Digitalisierung und noch vieles, vieles mehr – es gibt etliche Ansatzpunkte für sie. Lokko sagt: «A new world order is emerging, with new centres of knowledge production and control. audiences are also emerging, hungry for different narratives, different tools and different languages of space, form, and place. After two of the most difficult and divisive years in living memory, architects have a unique opportunity to show the world what we do best: put forward ambitious and creative ideas that help us imagine a more equitable and optimistic future in common.» Es wird spannend, man darf sich auf 2023 freuen.
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