Das verlorene Paradies: Bestandsaufnahme und Perspektiven
Susanna Koeberle
6. 6月 2019
Markus Kummer, «Entasis» (Foto: Vanessa Püntener)
An der 6. Skulpturen-Biennale Weiertal können Besucher*innen Arbeiten von 25 Künstler*innen in einem idyllischen Setting erleben. Die Kunstwerke machen aber zugleich auch den Verlust von Utopien sichtbar.
Gärten sind besondere Orte. Der französische Philosoph Michel Foucault zählte sie zu den Heterotopien (von griechisch: heteros (anders) und topos (Ort)), zu Orten, die gleichsam mehrere verkörpern und die nach eigenen Regeln funktionieren. Kulturgeschichtlich ist der Garten ein vielschichtiges Terrain. Man könnte ihn als Welt im Miniformat bezeichnen. Schliesslich war – laut der Bibel zumindest – ein Garten auch unser erstes Habitat überhaupt: der Garten Eden. Von diesem paradiesischen Ort wurden wir vertrieben. Der Garten steht deswegen auch für unsere verlorene Unschuld, für den Verlust von Utopien an sich und für unser ambivalentes Verhältnis zur Natur, die wir seither zu domestizieren versuchen. Mit zweifelhaftem Erfolg, wie die jüngst wieder aktuell gewordenen Debatten zu Klimaerwärmung und anderen menschgemachten Katastrophen vorführen. Stichwort Anthropozän. Die Erde ist bei weitem kein Paradies mehr.
Im Titel der sechsten Ausgabe der Skulpuren-Biennale Weiertal «Paradise, lost» verdichten sich all diese thematischen Stränge. Denn auch in der Kunst wird verstärkt über unser Verhältnis zur Natur nachgedacht, überhaupt über den Verlust von Utopien. Christoph Doswald, der Kurator der diesjährigen Freiluftausstellung, wollte deswegen das abgegrenzte Territorium des «Hortus conclusus» öffnen – sprich das irdische Paradies des malerischen Weihers verlassen und das Feld erweitern. Zum ersten Mal wurden Arbeiten auch ausserhalb des Park-Perimeters platziert. Doswald hat 25 Künstler*innen eingeladen, eigens für den Ort eine Arbeit zu kreieren. Er setzt dabei bewusst auf ein freundschaftliches Netzwerk zu Schweizer Künstler*innen statt auf das Abspulen von internationalen Topshots.
Nichtsdestotrotz liest sich die Liste der Namen als relevanter Schnitt durch die heutige künstlerische Auseinandersetzung mit dringlichen Fragen gesellschaftlicher Natur. Spannend ist die Auswahl auch deswegen, weil es den einzelnen Werken auf ganz unterschiedliche Art gelingt, die Betrachter*innen anzusprechen und damit einen Dialog zwischen realer und imaginierter Landschaft zu eröffnen. Eine Art Kartographie der umliegenden Landschaft nahm der Architekturfotograf Georg Aerni im Vorfeld der Biennale vor. Und zwar im Winter, wenn die Natur nicht so idyllisch daherkommt. Er nahm auch weniger malerische Aspekte der Umgebung in den Fokus und fotografierte etwa Strassenkreuzungen, vernakuläre Bauten, kahle Bäume oder alltägliche Gegenstände wie eine Bank. Seine Bilder dokumentieren das typische Schweizer Mittelland, erzählen ganz prosaisch von der Banalität und Schönheit einer Landschaft. Diese Feldforschung bildet quasi den Nullpunkt, aus dem die späteren künstlerischen Eingriffe erwachsen.
Esther Mathis: «Let me see you like you see me» (Foto: Esther Mathis)
Beiträge mit architektonisch-räumlichem ZugangAn dieser Stelle seien insbesondere Beiträge erwähnt, die mit räumlich-architektonischen Interventionen auf das Thema «Paradise, lost» reagieren. An einem strategisch zentralen Ort – dem eigentlichen Zufahrtsort für Transporte nämlich – schuf etwa Esther Mathis «Let me see you like you see me», eine Arbeit, die mit einer einfachen Geste ein klar lesbares Kunstwerk schafft. Das Fundamentieren der Wand aus Glasbausteinen war allerdings sehr aufwendig, wie wir vor Ort erfahren, denn sie muss auch dem Wind standhalten können. Das semiopake und strukturierte Bauwerk versinnbildlicht eine Grenze, die Abschottung vor dem und den Fremden sowie unseren verzerrten und kleinkarierten Blick darauf.
Während sich Mathis’ Arbeit an der Grenze des Parks befindet, bildet «Entasis» von Markus Kummer eine Art Willkommensgruss beim Betreten des Weiertaler Gartens. Die zwei Säulen aus Beton erinnern an ein Eingangsportal. Entgegen dem klassischen griechischen Ideal hat Kummer seine Säulen asymmetrisch gemacht, dadurch haben sie etwas von Ruinen. Dass die Säulen auseinander zu fliessen scheinen, ist gewollt. Paradoxerweise war gerade dieses havarierte Aussehen in der Herstellung eine besondere Herausforderung. Der aus einer Baumeisterfamilie stammende Künstler entwickelte für den Auslauf der Säulen eine eigene Methode. Seine Arbeit gemahnt an die Ökonomisierung des öffentlichen Raums, bei der jeder Zentimeter gezählt wird. So können diese Säulen auch als Störenfriede verstanden werden, als Eindringlinge in die Ordnung des Menschen.
Melli Ink: «Aion A» und «Aion B» (Foto: Vanessa Püntener)
Demgegenüber laden zwei Betonmöbel mit einer Oberfläche aus bunten Keramikkacheln zum Sitzen ein. Für «Aion A» und «Aion B» liess sich Melli Ink von der Arbeit der Naturforscherin und Künstlerin Emma Kunz inspirieren. Diese erlebt seit der Kunstbiennale von Massimiliano Gioni (2013) ein Revival. Nach einer Retrospektive in der Serpentine Gallery in London eröffnet diesen Sommer eine Ausstellung im «Muzeum Susch», nächstes Jahr gibt es zu ihrem Werk eine Schau im Aargauer Kunsthaus zu sehen. Die Künstlerin wollte mit den beiden Skulpturen einen «Ort des Verweilens in der Natur schaffen, der die Kraft der Natur in sich aufnimmt und auf den Betrachter und Benutzer übertragen soll», wie sie im Katalog zur Biennale sagt. Solche Arbeiten könnte man sich gut auch als Ruheorte für gestresste Städter*innen im urbanen Raum vorstellen.
Cristian Andersen: «Give me one more day» (Foto: Christian Andersen)
Dass wir unseren Lebensraum zunehmend auch als Ruinen der Moderne erfahren, bekräftigt die Arbeit von Cristian Andersen. Sein pavillonartiges Konstrukt «Give me one more day» ist ein mehrschichtig lesbares, fragmentarisches Bauwerk. Es könnte Bühne, Möbelstück oder Behausung in einem sein, ist aber nichts von alledem. Diese Ambivalenz verleiht dieser ruinenartigen Architektur etwas Gespenstisches. Blicken wir durch das farbige Guckloch, erscheint die Landschaft noch unwirklicher und künstlicher, als sie eh schon ist. Natur ist eben immer auch eine gemachte, gerade in einem solchen Kontext. Andersens Beitrag ruft uns in Erinnerung, dass der Mensch seit seiner Vertreibung aus dem Paradies immer – Hallo Heidegger – unbehaust war. Und dass dieses Gefühl heute nicht ein einfach zu vertreibendes Schreckensgespenst ist, sondern schon bald für mehr als nur einen Teil der Menschheit Realität werden könnte.