Eine schwergewichtige und leichtfüßige Hommage
Ela, Dennis, Simone, Ari, 2015 (Foto: © Ruth Erdt)
Der Bildband »K12. Schwamendingen, ein Randbezirk von Zürich« ist ein fast tausendseitiges Buchobjekt, mit dem die Künstlerin Ruth Erdt das Quartier porträtiert, in dem sie seit dreißig Jahren lebt.
Wie schwer wiegt der Kreis 12? Kurze Schätzrunde: Die meisten Befragten tippen auf über vier Kilogramm. Doch nein, es sind »bloß« 2.8. Immer noch ein Schwergewicht. Natürlich ist nicht der Kreis 12 selbst, also der Stadtteil Schwamendingen, gemeint, sondern das Buch »K12. Schwamendingen, ein Randbezirk von Zürich«. Kein Wunder, ist diese Publikation so heavy: Sie enthält neben drei lesenswerten Texten nicht weniger als 643 Fotografien. Das sind nicht wenige. Und dennoch stellen diese Bilder nur einen Bruchteil – genauer gesagt rund 10 Prozent – der Bilder dar, welche die Fotografin Ruth Erdt im Laufe der Jahre gemacht hat: Es sind sage und schreibe 60'000 Bilder! Seit dreißig Jahren lebt Erdt mit ihrer Familie in wechselnden Konstellationen in diesem Quartier und dokumentiert ihre Umgebung. Mit anderen Worten, alles, was sie umgibt, was sie sieht: Außenräume und Innenräume, nahe und fremde Menschen, Bäume und Tiere. Und Flugzeuge. In Schwamendingen fliegen sie recht häufig über die Häuser.
Und das ist nicht die einzige Lärmquelle, die die Bewohnerinnen und Bewohner dieses Randbezirks quält. Seit 1980 ist das Quartier nämlich durch den sechsspurigen Autobahnabschnitt A1L entzweit. Die beiden Hälften waren danach nur noch durch zwei Unterführungen miteinander verbunden. Nach 19 Jahren Autolärm hatten die Anwohner genug: Sie reichten 1999 eine Volksinitiative ein, die die Einhausung der A1L forderte. Das Ganze zog sich in die Länge, und so konnte erst 2019 mit dem Bau begonnen werden. Fünf Jahre wurde an der 940 Meter langen Überdachung der Straße gebaut, die die beiden getrennten Teile wieder miteinander verbinden soll. Zumindest werden mit dem entstehenden Hochpark ein paar neue Verbindungen geschaffen. Dieses Jahr sollen die Umgebungsarbeiten abgeschlossen werden. Die Wunden der damit einhergehenden Transformation werden allerdings bleiben. Das zeigen auch Erdts Bilder bei aller positiven Ausstrahlung deutlich.
Heizkraftwerk Hagenholz, 2013 (Foto: © Ruth Erdt)
Das Projekt Einhausung zog einen signifikanten Wandel nach sich. Häuser wurden abgerissen, Ersatzneubauten erstellt. Die Mietpreise stiegen. Logisch eigentlich. Man nennt das auch Gentrifizierung. Doch halt: Schwamendingen tickt etwas anders. Liest man die Texte im Buch, wird man zuweilen an das Dorf aus »Asterix der Gallier« erinnert. Wie heißt es dort jeweils am Anfang der legendären Comics? »Wir befinden uns im Jahre 50 vor Christus. Ganz Gallien ist von den Römern besetzt. Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten.« Schwamendingen ist in mehrfacher Hinsicht speziell und hat in der Tat etwas von einer Insel: »Eingekreist von Wald, Auto- und Eisenbahn sowie dem Flüsschen Glatt hat Schwamendingen etwas insularen Charakter und scheint abgeschottet«, schreibt Philipp Klaus in seinem Beitrag für das Buch, in dem er die Geschichte des Bezirks aufrollt. Damit sind wir wieder zurück bei diesem Wahnsinnsbuch. Wahnsinn, weil eigentlich jedes Buchprojekt genau genommen ein Wunder ist. Und auch, weil dieses Buch mehr als nur ein Buch ist. Es ist vielmehr eine Liebeserklärung an einen Wohnort, an einen Lebensstil. Und vielleicht auch so etwas wie eine Utopie.
Hirzenbach, 2014 (Foto: © Ruth Erdt)
Nicht, dass Ruth Erdt mit ihren Bildern »ihr« Quartier verklären würde, im Gegenteil. Die Bilder sind geprägt von Intimität und Empathie, gerade in den fünf »Inserts«, in denen die Künstlerin heranzoomt und dem Bilderfluss gleichsam Halt gebietet. Hier porträtiert sie etwa Bauarbeiter oder Schulklassen. Aber ihre Bilder beschönigen nichts, Erdt bleibt trotz der Nähe zugleich Beobachterin. Auch Trauer spürt man hie und da heraus. Trauer über die Zerstörung von Lebensräumen, über das Verschwinden einer Ära. Am Ende ihres berührenden Textes schreibt die Künstlerin: »Danke für alles, Schwamendingen. Und jetzt? Wo soll ich hin?« Um zu verstehen, was dieses Quartier so besonders macht, muss man an dieser Stelle noch ein Stück weiter zurückspulen in der Geschichte. Was aber auch geht: sich treiben lassen vom mäandrierenden Bilderfluss des Buches. Man taucht danach wie kathartisch gereinigt aus den Fluten und denkt als Betrachterin und Leserin: Wieso kenne ich dieses Quartier so schlecht? Schwamendingen ist eben auch im übertragenen Sinn ein Randbezirk und genießt nach wie vor einen schlechten Ruf. Dabei gibt es wenig Grund dazu.
Einhausung A1, 2016 (Foto: © Ruth Erdt)
Das Dorf Schwamendingen wurde 1934 in die Stadt Zürich eingemeindet. Der damalige Stadtbaumeister Albert Heinrich Steiner (1905–1996) setzte auch dort den nach ihm benannten »Steinerplan« durch: Große Siedlungseinheiten, wenig Hauptstraßen, eine feinmaschige Durchwegung und viel Grün zwischen den Gebäuden. Vorbild dafür waren die englischen Gartenstädte. Ein Großteil der Bauten wurde mit Wohnbaugenossenschaften realisiert. Ins neu entstehende Quartier zogen viele Arbeiterfamilien. In der Nachkriegszeit entstanden rund um Zürich Shoppingmalls und Infrastrukturbauten, das Schweizer Mobilitätsnetz wurde ausgebaut, die Städte wuchsen: Es war eine Zeit des Aufbruchs. Zürich entwickelte sich immer mehr zu einer internationalen Stadt.
Apropos international: Es gibt in der Zwinglistadt zwei Quartiere mit einem Ausländeranteil von über 40 Prozent: Schwamendingen und Seefeld. Wobei sich diesbezüglich eklatante soziologische Unterschiede zeigen. Denn das durchschnittliche Jahreseinkommen ist im schicken Seefeld fast doppelt so hoch wie im letzten der zwölf Kreise Zürichs. Von den 43 Prozent an Ausländerinnen und Ausländern, die in Schwamendingen leben, besitzen 37 Prozent keinen Schweizer Pass. Viele Menschen stammen aus klassischen Ländern der Arbeitsmigration, auch zogen etliche aus Kriegs- und Krisengebieten in den Kreis 12. Der Herausgeber von »K12«, Urs Stahel, der die Künstlerin schon lange kennt und sie im Prozess der Buchentstehung begleitet hat, erzählt im Gespräch von Erdts Verbundenheit mit dem Quartier. Und auch viele junge Menschen würden sich mit dem Image des »abgehängten« Quartiers identifizieren. Der Stolz auf ihr Revier zeigt sich auch in den K12-Graffitis, denen man im Bildband mehrfach begegnet. Früher nannten sich Bewohner des Stadtkreises 4 »ragazzi/e quattro«, heute gehört auch das Industriequartier zu den teureren Wohngegenden. Blüht dieses Schicksal bald auch dem Kreis 12?
Saatlenstrasse, 2015 (Foto: © Ruth Erdt)
Man kann sich fragen, ob es diese schiere Menge an Bildern braucht, um all das zu erzählen. Der Reiz dieses Langzeitprojekts ist aber genau das wiederholte Festhalten der einfachen und alltäglichen Dinge, die einen Ort prägen. Die bunte Assemblage von disparaten Bildwelten zeugt vom dichten und gegensätzlichen Geflecht, aus dem eine Stadt besteht. Dazu gehört auch das Vernachlässigte, Unscharfe, Opake, das erst in der Masse seine Wirkung entfaltet. Ruth Erdt hat ein Buchobjekt erschaffen, das viel mehr ist als die Summe von unzähligen Einzelbildern. Das Beiläufige und zugleich Präzise ihrer Fotografie erzeugt ein alternatives Gefüge, das jedem Stadtplaner, jeder Stadtplanerin die Augen öffnen kann für die Resilienz und Widerstandskraft von Menschen und städtischen Räumen.
In der Kunsthalle Zürich (Limmatstrasse 270, 8005 Zürich) ist die Ausstellung »Ruth Erdt. K12 – Schwamendingen« noch bis am 19. Januar zu sehen.