Die Siedlung Neubühl im Dialog mit Kunst
Susanna Koeberle
4. agosto 2021
Die Zweige interagieren mimetisch mit der Tapete des Hauses. (Foto: Rudolf Moser)
Die amerikanisch-schweizerische Künstlerin Janet Levy wohnte über ein halbes Jahr im SWB Experimentierhaus in der Siedlung Neubühl. Zum Ende ihrer Residenz präsentiert sie alle drei Werkzyklen, die während ihres Aufenthaltes entstanden.
Die Werkbundsiedlung Neubühl in Zürich-Wollishofen entstand zwischen 1930 und 1932 auf Initiative einer Gruppe junger Architekten (namentlich Paul Artaria, Max Ernst Haefeli, Carl Hubacher, Werner Max Moser, Emil Roth, Hans Schmidt und Rudolf Steiger) und gilt in der Schweiz als Ikone des Neues Bauens. Das architektonische Projekt steht zugleich für neue Wertvorstellungen das Wohnen betreffend. Diese Visionen möchte das Ende 2016 ins Leben gerufene SWB Experimentierhaus Neubühl aufnehmen und im heutigen Kontext verankern. Zweimal jährlich bietet es Kunstschaffenden eine Residenz in einem der Häuser der Überbauung an. Das Haus an der Westbühlstrasse ist nicht nur Wohnort und Atelier, sondern versteht sich auch als öffentlicher Ort, der mit verschiedenen Veranstaltungen sowohl die Bewohner*innen der Siedlung als auch Interessierte ansprechen möchte.
Wie wir alle wissen, hat das Thema Wohnen gerade in den letzten Monaten an Relevanz gewonnen – nicht nur in der Schweiz. Die amerikanisch-schweizerische Künstlerin Janet Levy verliess letztes Jahr ihren Wohnort Los Angeles aufgrund der verheerenden Waldbrände, die das Leben in Kalifornien neben Corona zusätzlich erschwerten, und landete schliesslich in Zürich im SWB Experimentierhaus. Ihre ortsspezifischen Arbeiten, die sie während ihrer Residenz entwickelte, kreisen um die Themen Heimat, Wohnen und Bewegung. An drei öffentlichen Salons konnten Interessierte die Installationen besuchen.
Janet Levy in ihrer Installation «Repeat» (Foto: Toby M. Schreier)
Die Bildhauerin, Kuratorin und Songwriterin war zeit ihres Lebens eine Nomadin zwischen den Welten. Seit einiger Zeit lebt und arbeitet sie zwischen Los Angeles, Mexiko City und Zürich; nach ihrer Rückkehr in die Vereinigten Staaten war sie auch mehrere Jahre Inhaberin einer Galerie. Die Pandemie verstärkte die Auseinandersetzung mit ihrer nomadischen Lebensweise sowie auch mit der Frage, was Heimat bedeutet. Ihr Werdegang als Künstlerin reflektiert in besonders ausgeprägtem Masse die Beziehung zwischen dem Aussen und Innen und zwar in mehrfacher Hinsicht. Seit Levy wieder Vollzeit als Künstlerin tätig ist, arbeitet sie vorwiegend mit Stein (etwa Alabaster, Marmor oder Onyx), sie experimentierte aber bereits in früheren Jahren mit anderen Medien, die auch als Vorbereitung ihrer langjährigen Recherchen dienen. Zentrales Element ihrer künstlerischen Praxis ist das Ausloten zwischen inneren emotionalen Spannungen und äusseren Wahrnehmungen. «Mit meiner Kunst versuche ich, das Unsichtbare sichtbar zu machen» erklärt Levy bei unserem Besuch im Experimentierhaus. Dabei nimmt sie auch häufig auf die Natur und die Landschaft (etwa auf Vulkane) Bezug, die sie als Metapher für transformative Prozesse versteht.
Bei «Pulse» verschmelzen Architektur und Fundstücke zu Kunst. (Foto: Janet Levy)
Der erste Salon im April, an dem die Künstlerin erstmals ihre ortsspezifischen Werke zeigte, trug den Titel «Repeat». Leider konnte dieser Event aufgrund der Pandemie nur online stattfinden. Levy lud die Tänzerin und Choreographin Diane Gemsch ein, an einer Performance mit ihren Skulpturen in einen bewegten Dialog zu treten. Auch in Zürich verwendete sie für ihre Arbeiten lokale Materialien; die Skulpturen im Hauptraum des Hauses etwa bestehen aus Zweigen, die sie nach einem Schneesturm im Januar in der Umgebung fand. Während des Lockdowns sammelte sie auf Spaziergängen diese Relikte aus der Natur, ohne genau zu wissen, was daraus entstehen würde. Auf ihren Streifzügen über Flohmärkte und durch Brockenhäuser kamen ungewöhnliche Objekte hinzu, die sie später zu Dada-artigen Skulpturen verarbeitete (etwa zu «For all the singers above», ein Objekt, das aus einem alten Telefon, Gummi, Eiern aus Stein und einem Rabenkopf besteht). Die Steine stammen von einem Händler, auf den sie über einen lokalen Bildhauer aufmerksam wurde. Relativ untypisch für ihre bisherige Arbeitsweise ist das fast Figurative, das einzelne Werke haben. Durch das Sichtbarmachen von gewalttätigen Naturvorgängen (wie dem Schneesturm) traten bei den Zweigen plötzlich anthropomorphe Elemente in Erscheinung, die an Wunden oder Narben erinnern. Diese Prozesse führt sie auf ihre intuitive Arbeitsweise zurück sowie auf die Auseinandersetzung mit den Besonderheiten des Ortes und der Situation.
Für den dritten Salon «Pecked times five» experimentierte Levy zum ersten Mal mit Cyanotypie. (Foto: Janet Levy)
Der zweite Salon trug den Titel «Haus» und referenzierte direkt architektonische Besonderheiten der Siedlung aus den 1930er-Jahren. Bei ihren Recherchen stiess sie zudem auf ein schönes Gedicht von Meret Oppenheim. Es inspirierte sie zu eigenen, neuen Arbeiten, die als Hommage an den Surrealismus sowie an die Schweizer Künstlerin gelesen werden können. In diesem Kontext entstand auch die zuvor erwähnte Skulptur mit dem Telefon und dem Rabenkopf. Besonders fasziniert war die Künstlerin vom Handlauf der Treppe, den sie als Bestandteil der Arbeit «Pulse» nutzte: Schuhspanner, verschiedene Steine und gefundene Objekte ranken sich um den Handlauf und werden zu einem neuen «Körper». Auch für «Haus» lud sie eine Performancekünstlerin ein; Sonja Römmelt schuf in Zusammenarbeit mit Levy die Performance «pulsierend», die auch Besucher*innen zur physischen Interaktion animierte. Für den dritten Salon «Pecked times five» experimentierte sie zum ersten Mal mit Cyanotypie. Die daraus entstandenen fünf textilen Dyptichen zeigte sie zusammen mit der Collagenserie «Pecked», erstellt aus hunderten von ausgeschnittenen Vogelschnäbeln. Die Form des Vogelschnabels ist ein wiederkehrendes Motiv in ihrem Werk. Die Arbeiten der drei Salons entstanden nach und nach – und dennoch scheinen sie alle miteinander in Verbindung zu stehen. Einzelne wandelten sich auch im Verlauf der Zeit wie etwa die Farbe der Zweige der Arbeit «Apple Bomb». Entstanden ist eine Art Gesamtkunstwerk, das Architektur, Naturelemente und Artefakte vereint.
Levys Arbeiten regen über Umwege zum Nachdenken über das Verhältnis zu unserem eigenen Körper an. (Foto: Janet Levy)
Anmeldungen unter: janetlevystudio@gmail.com
Instagram: @seelinewoman