Kunst zwischen Provokation und Inspiration

Elias Baumgarten
3. avril 2024
Illustration: Swiss-Architects.com

Heute ist Richard Serras Arbeit «Terminal» ein kulturelles Wahrzeichen der deutschen Stadt Bochum. Doch es dauerte lange, bis sich die Menschen im Ruhrgebiet mit der Kunst des US-Amerikaners anfreunden, ja überhaupt abfinden konnten: Als die eiserne Skulptur 1977 zur Kunstschau «Documenta 6» in Kassel aufgestellt wurde, entbrannte, um es milde auszudrücken, eine hitzige Debatte: Die Radiomoderatorin Carmen Thomas zum Beispiel erinnert sich, dass 1980 in ihrer Sendung «Hallo Ü-Wagen» sogar von «entarteter Kunst» die Rede gewesen sei, als mit dem Publikum über das Kunstwerk diskutiert wurde. Und der bekannte deutsche Politiker Kurt Biedenkopf versprach in einer Wahlkampfrede, im Falle seines Sieges die Skulptur abzureissen. Trotzdem kaufte die Stadt Bochum das Kunstwerk, dessen Wert heute auf mehrere Millionen Euro geschätzt wird. In den 1980er- und 1990er-Jahren schliesslich konnte der Bildhauer Werke in weiteren Städten Deutschlands verwirklichen, darunter Hamburg, Bielefeld, Essen und Saarbrücken.

Ähnlich polarisierend wirkte Serras Kunst auch hierzulande, zuweilen fielen die Reaktionen zunächst sehr negativ aus: Seine Arbeit «Trunk» (1986/87) in St.Gallen sorgte für eine emotionale Debatte – genau wie die Skulptur «Intersection» (1994) in Basel, die manche Passanten gar als Pissoir benutzten. Bis vor kurzem forderten Basler Politiker immer wieder, das Kunstwerk zu entfernen beziehungsweise es lieber an einem weniger prominenten Ort aufzustellen. Und dass die SBB 2007 einen Handlauf um Serras Skulptur «Maillart Bridge Extended» an der Grandfey-Brücke in Freiburg schweissen liess, sorgte nicht nur für Spott über die Ignoranz der Verantwortlichen, sondern bei manchen durchaus auch für klammheimliche Freude.

Auch in seiner Heimat reagierten die Menschen vielfach irritiert bis ablehnend auf die Arbeiten des in San Francisco geborenen Künstlers: In New York etwa wurde seine Skulptur «Titled Arc» nur wenige Jahre nach ihrer Errichtung abgebaut und verschrottet.

«Ich glaube nicht, dass Kunst die Aufgabe hat zu gefallen.»

Richard Serra

Von Zeichnungen und Grafiken zu Skulpturen

Und doch gilt Richard Serra, der am 26. März in seinem Haus auf Long Island verstorben ist, heute als einer der grössten Künstler seiner Generation. Das britische Kunstmagazin ArtReview zählte ihn 2007 zu den 20 einflussreichsten zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern. Er erhielt viele Preise, und nachdem sein Tod bekannt wurde, sagte Deutschlands Kulturstaatsministerin Claudia Roth, er werde «in unser aller Erinnerung bleiben». Der Sohn eines spanischen Werftarbeiters und einer jüdischen Russin hatte zunächst englische Literatur studiert. Nebenbei jobbte er in einem Stahlwerk – eine Arbeit, die ihn prägen sollte. Nach seinem Literaturstudium hängte Serra ein Kunststudium an. Er wurde Schüler und schliesslich Assistent von Josef Albers (1888–1976), was seine minimalistische Kunst wesentlich mitgeprägt haben dürfte. In den 1960er-Jahren gestaltete er Druckgrafiken, experimentierte mit Film und zeichnete. Ab 1971 entstanden seine bekannten «Drawings», tiefschwarze Bilder, gemalt mit dicker Ölkreide. – Und Serra fing an, begehbare Skulpturen aus Stahl zu bauen. 

Beeinflusst wurde er dabei vom Werk des rumänisch-französischen Bildhauers Constantin Brâncuși (1876–1957), das er in Paris eingehend studiert hatte. Prägend waren für Serra auch eine Reise mit seiner damaligen Partnerin, der amerikanischen Künstlerin Joan Jonas, nach Japan und die Arbeit mit Robert Smithson (1938–1973) an dessen bekanntem Land-Art-Kunstwerk «Spiral Jetty».

Die begehbare Skulptur «Vortex» (2002) gehört zum Modern Art Museum Fort Worth im US-Bundesstaat Texas. (Fotos: John Hill)
Besucherinnen erkunden die Skulptur «Intersection II» (1992/93) im Hof des MoMA in New York. (Fotos: John Hill)
Kunst, die niemand kaltlässt

Vielleicht schon seit er am Arbeitsplatz seines Vaters den Stapellauf grosser Schiffe miterlebt hatte, interessierte sich Richard Serra für die Wirkung von Masse und Gewicht. Seine begehbaren Grossskulpturen schuf er darum bevorzugt aus Stahl, Holz oder das Leichtmetall Aluminium schienen ihm hingegen ungeeignet. Die Wirkung seiner Arbeiten auf Körper und Psyche ist beeindruckend. Unser amerikanischer Redaktor John Hill meint dazu: «Speaking from my own experiences, walking through and around Serra’s sculptures, especially the curved and tilted walls of steel grouped in multiples, as in the retrospective at MoMA in 2007, is nothing less than dramatic: my heart tightening when the walls lean in, a feeling of exhilaration when they open to the sky. Compression, tension, and other qualities of space that architects learn about and try to master are contained within Serra’s minimal sculptures, in his nearly infinite variations of rust-covered steel.»

Auch die kraftvolle Idee, das Holocaust-Mahnmal in Berlin als Stelenfeld zu gestalten, stammt von Serra. Nicht ganz korrekt wird sie heute vor allem Peter Eisenman zugeschrieben, mit dem zusammen der Bildhauer den Entwurf beim Wettbewerb eingereicht hatte. 1998 zog Serra sich im Streit von dem Projekt zurück, als die Gestaltung im Laufe des Verfahrens verändert wurde.

Richard Serras Arbeiten werden dem Postminimalismus zugerechnet, einer Kunstströmung, die die Minimal Art öffnete und veränderte: Hatte Donald Judd (1928–1994), einer der Hauptvertreter des Minimalismus, noch Galerien verklagt, weil er meinte, seine Kunstwerke seien dort durch Fingerabdrücke ruiniert worden, waren für Serra die Schleifspuren aus dem Stahlwerk an seinen korrodierten Arbeiten wichtige Zeugnisse des Herstellungsprozesses. Für viele Architektinnen und Architekten indes war seine sehr räumliche Kunst mit ihrer enormen Wirkung eine wichtige Inspirationsquelle. Die grossen Emotionen, die sie auslöste, zeigen, wie sehr Kunst Menschen zu bewegen vermag, welche Kraft sie entfalten kann. Richard Serra wurde 85 Jahre alt.

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