Licht- und Schattenseiten eines geteilten kulturellen Erbes

Susanna Koeberle
10. Oktober 2024
Ausstellungsansicht aus «ROOTS – By Michael Schindhelm», «Empfang», Kulturstiftung Basel H. Geiger, 2024 (Foto: © Kulturstiftung Basel H. Geiger)

Sehnsuchtsorte sind zweischneidige Schwerter. Man könnte verständlicherweise einwenden, dass ein Sehnsuchtsort doch etwas Schönes sei, dem nichts Ambivalentes anhaftet. Deswegen gleich ein Beispiel aus einem Bereich, der die Verquickung von Liebreiz und Horror eines Sehnsuchtsortes anschaulich macht, nämlich dem Tourismus oder genauer: dem Massen- und Übertourismus. Bekannt und vieldiskutiert ist das Phänomen in Städten wie Barcelona, Prag oder Venedig, um nur einige zu nennen. Aber auch abgelegene und idyllische Sehnsuchtsorte wie Mykonos oder Santorini sind schwer davon betroffen. Das Stichwort «idyllisch» ist – wie überhaupt die Sehnsucht – Teil des Problems. Es zeigt auch, wie absurd das Reisen heute geworden ist. Denn was soll etwa an einem Sonnenuntergang idyllisch sein? Wieso fährt die Spezies Mensch dafür eigens auf eine Insel? Hat doch eigentlich jeder und jede vor der Haustür. 

Das Phänomen wirft die Frage nach Entstehung und Zukunft touristischer Sehnsuchtsorte auf. Klar ist: Es sind konstruierte Orte, die mit mannigfachen Projektionen zusammenhängen. Mit dem abendländischen Blick etwa auf das Fremde und Exotische. Damit gehen viele Probleme wie etwa der Ausverkauf der lokalen Kultur und Landschaft einher. Nehmen wir zum Beispiel Bali: Für das «Ferienparadies» wirbt heute eine Flut von Bildern, die auf allen möglichen Kanälen zirkulieren. Die Macht von Bildern ist gross; obwohl – oder gerade weil (?) – sie wenig mit der Realität zu tun haben. Dennoch reflektieren sie die Geisteshaltung und die Abgründe der abendländischen Kultur.

Ausstellungsansicht aus «ROOTS – By Michael Schindhelm», «Schlafzimmer», Kulturstiftung Basel H. Geiger, 2024 (Foto: © Kulturstiftung Basel H. Geiger)

Eine Geschichte, die Bali, den Tourismus und die Macht der Bilder vereint, ist diejenige des in Russland geborenen deutschen Künstlers Walter Spies (1895–1942). Das relativ kurze Leben des Malers und Musikers gäbe Stoff her für einen Roman. Wobei schwer zu entscheiden ist, ob man diesen als surreal-magisch oder tragisch bezeichnen müsste. Spies verliess 1923 als 28-Jähriger Europa und besuchte die Insel der Götter erstmals 1925. Wenig später liess er sich auf Bali nieder, die Insel wurde seine neue Heimat. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass der Künstler in der westlichen Kunstgeschichte quasi abwesend ist, während er in der Balis bis heute eine bekannte Figur darstellt, die ihre Spuren in der balinesischen Kultur hinterlassen hat. Hier begegnen sich zwei Welten, wobei die Rezeption interessanterweise mal in die umgekehrte Richtung läuft. Mit anderen Worten: Es sind die Balinesen, also die Kolonialisierten, die die Erinnerung an einen Kolonialisten in ihrer Kultur aufrechterhalten. Diese Umkehrung erlaubt einen neuen Blick auf das Thema Postkolonialismus und kulturelle Identität. 

Der besondere Fall eines geteilten Kulturerbes (Shared Heritage) interessierte den Autor, Filmemacher und Kurator Michael Schindhelm. Bereits 2018 hatte er dem deutschen Künstler ein Buch gewidmet, in dem er das faszinierende und traurige Leben von Walter Spies schilderte. Mit der Ausstellung «ROOTS» und einem längeren Film konfrontiert Schindhelm die präsent-absente Figur von Walter Spies mit der Gegenwart. Denn als der Autor seine Recherche zu Spies startete, wurde ihm klar, dass er dessen Wirken in Bali nur aus der Perspektive heutiger balinesischer Kunstschaffenden begreifen und erzählen konnte. Schindhelm versteht Film und Ausstellung als kollektives Erinnerungsprojekt, als Prozess also, der beide Seiten involviert.

Faszinierendes Werk: Walter Spies, «Deer Hunt», 1932, Ölfarben auf Leinwand (Foto: © Afterhours Books Jakarta)

Ausgangspunkt für die Szenografie der Ausstellung «ROOTS» in der Kulturstiftung Basel H. Geiger ist die Villa Iseh, der Ort auf Bali, an dem sich Walter Spies in den späten 1930er-Jahren zum Malen zurückzog und der später zu einem legendären Hotel wurde, in dem Berühmtheiten wie Yoko Ono oder David Bowie abstiegen. Die Besucherinnen und Besucher betreten ein fremdes Haus einer fremden Kultur, wobei diese Reise bewusst auch in heikles Terrain führt. Durch das Einbeziehen der Arbeiten des Künstlers Made Bayak und des Grafikdesigners Gus Dark wird die zeitgenössische und kritische Ebene gleich zu Beginn aktiviert. So begegnet man schon im Entrée – beziehungsweise in der Rezeption – den Themen Übertourismus und Kulturerbe. 

Ausstellungsansicht aus «ROOTS – By Michael Schindhelm», «Empfang», Kulturstiftung Basel H. Geiger, 2024 (Foto: Kulturstiftung Basel H. Geiger)

Walter Spies war nicht ganz unschuldig an der Entwicklung Balis zum globalen Tourismus-Hotspot. Er brachte schon damals bekannte Leute nach Bali und trug zum exotisierenden Blick auf die lokale Kultur bei. Zugleich zeigt Schindhelm mit der Ausstellung, dass Kultur ständig neu verhandelt wird. Nichts ist schlimmer als eine Kultur, die eingefroren ist. Spies arbeitete damals mit dem Choreografen und Tänzer Wayan Limbak an den lokalen Tänzen und an ihrer «Modernisierung», womit er paradoxerweise zugleich zu ihrem Erhalt beitrug. Heute werden diese Tänze den Touristen als «ursprünglich» balinesisch verkauft. Der westliche Blick auf eine intakte und urtümliche lokale Kultur wird in der Ausstellung als Fiktion und Sehnsucht entlarvt. Schindhelm schafft es zu zeigen, wie viel spannender es doch ist, wenn wir umgekehrt mit den Augen von Einheimischen auf unsere Kultur blicken können. Diese Perspektive muss noch eingeübt werden. Zu stark dominiert eine verherrlichende, vereinheitlichende und damit auch respektlose Sicht auf fremde Kulturen.

«ROOTS» ruft dazu auf, sich den Gespenstern der Vergangenheit zu stellen und sie mit den Geschichten der Gegenwart zu verweben. Es bleibt zu hoffen, dass sich der einseitige Blick auf Sehnsuchtsorte wandeln wird. Dass wir langsam lernen können, Reisen nicht bloss als ein Konsumgut zu betrachten, sondern als bewusstseinsveränderndes Kulturgut.

Filmstill, «Roots – by Michael Schindhelm», Kulturstiftung Basel H. Geiger, 2024 (© Kulturstiftung Basel H. Geiger)
Das SRF strahlt den Film «ROOTS» im Rahmen von «Sternstunde Kunst» am 13. Oktober aus. Am 19. Oktober wird die Arbeit ausserdem auf 3Sat gezeigt.

Verwandte Artikel

Vorgestelltes Projekt

fotografie roman weyeneth gmbh

Wohnbauten

Andere Artikel in dieser Kategorie