Eine persönliche Suche nach den eigenen Wurzeln wird zum Stadtporträt
Susanna Koeberle
29. juin 2022
Die Publikation «Hidden Istanbul» liefert einen besonderen Blick auf die hektische Grossstadt. (Foto © Françoise Caraco)
Das Buch «Hidden Istanbul» der Künstlerin Françoise Caraco vereint ihre persönliche Familiengeschichte mit einer Recherche zu jüdischem Leben in der türkischen Metropole. Es vermittelt ein vielschichtiges Bild einer verschwindenden Welt.
Der Titel des Buches lässt im ersten Augenblick an einen Reiseführer denken. Das Prädikat «hidden» in Kombination mit einem Ortsnamen benutzen häufig Publikationen, die vorgeben, «Geheimtipps» über eine Stadt oder eine Gegend zu verraten, was an sich eine Contradictio in adiecto ist und auch sonst meist wenig Aussagekräftiges zutage bringt. Der Zürcher Künstlerin Françoise Caraco hingegen gelingt es mit «Hidden Istanbul» auf subtile Weise, die Dialektik von Zeigen und Verbergen einzufangen. Das schafft sie über das Verbinden von Text- und Bildfragmenten, die nie vorgeben, etwas Ganzes oder Abgeschlossenes darstellen zu wollen. Vielmehr liefert sie verschiedene Zugänge, die man als Leser*in nach und nach erkunden und entdecken kann.
Den Ausgangspunkt ihrer Recherche bildete ihre eigene Familiengeschichte. In den Dokumenten ihrer Familie fand sie etwa eine Postkarte, die von ihrem Urgrossvater mit der Angabe «mon village natal» (mein Geburtsdorf) beschriftet worden war. Oder eine Fotografie mit Text auf der Rückseite, der auf Ladino, der Sprache der sephardischen Juden, verfasst worden war. Ihr Urgrossvater Isaac Caraco war Anfang des 20. Jahrhunderts aus Istanbul, das damals noch Konstantinopel hiess, ausgewandert und hatte sich 1916 in Basel niedergelassen. Offenbar war er später nie wieder in seine frühere Heimat zurückgekehrt. Françoise Caraco fand nur wenig Informationen zur Familie ihres Urgrossvaters und wollte mehr wissen.
Dezente Einblicke in sephardisch-jüdisches Leben in Istanbul (Foto © Françoise Caraco)
Im Rahmen eines Stipendiums der Landis & Gyr Stiftung konnte sie mehrmals nach Istanbul reisen. Sie begann vor Ort zu recherchieren und beschloss, ihre Dokumentation auszudehnen. Mithilfe des örtlichen Rabbinats konnte sie sogar Gräber von Familienmitgliedern ausfindig machen. Doch vor allem das gegenwärtige Leben der sephardisch-jüdischen Gemeinschaft interessierte sie, sie wollte möglichst viele Menschen befragen. Im Laufe der Zeit kamen 35 Begegnungen mit jüdischen Menschen aus Istanbul zustande, denen sie eine Reihe einfacher Fragen stellte, darunter auch, ob sie den Namen Karako (in der türkisierten Schreibweise) kennen würden oder ob sie Istanbul als ihr Zuhause sehen. Auch ihr Bezug zum Judentum kommt zur Sprache. Diese Fragen stellt die Künstlerin gleich an den Anfang des Buches, sie dienen quasi als Leitfaden. Dass sie nicht die ganzen Gespräche abdruckte, war ein bewusster Entscheid. Zum einen tat sie dies, um die Privatsphäre der Befragten zu schützen, zum anderen würden in ähnlichen Antworten das Wiederkehrende und Kollektive offensichtlicher, erklärt Caraco im Gespräch. Sie betont dabei auch das unterschiedliche Alter ihrer Gesprächspartner*innen. Diese Diversität ist indirekt spürbar, sie schlägt sich unter anderem in der grafischen Darstellung der Gesprächsfragmente nieder, die an Sprechblasen erinnern.
Die Stadt im Spiegel eines persönlichen Zugangs (Foto © Françoise Caraco)
Zwischen diesen Textseiten finden sich Fotografien, die sie während ihren Aufenthalten machte. Um im städtischen Raum nicht aufzufallen, tat sie dies meist klandestin, manchmal auch mit dem iPhone. Viele dieser Schnappschüsse entstanden auf dem Weg zu den Leuten, die sie besuchte. Eigentliche Porträts der Befragten sucht man allerdings vergeblich, der Einblick in die privaten Domizile ist sehr diskret. Schliesslich sind diese Menschen über ihre Aussagen präsent; ihre Stimmen mischen sich mit den Eindrücken von traditionellen Festen, Aufnahmen in Synagogen oder an anderen Orten jüdischen Lebens. Man muss schon genauer hinschauen, um zu erkennen, dass es in diesem Buch in erster Linie um das – eben versteckte – Judentum Istanbuls geht.
Das Einbetten dieses Erzählstrangs in Bilder des städtischen Raums dieser hektischen und lauten Stadt schafft einen schönen Rhythmus und benennt zugleich indirekt, dass diese Gemeinschaft im Verschwinden begriffen ist. Den persönlichen Bezug der Künstlerin zu diesem Thema erkennen wir an den eingestreuten Faksimiles der historischen Dokumente aus dem Familienarchiv. Das Eintauchen in die Familiengeschichte sowie das Thema Erinnerung sind Teil der künstlerischen Praxis von Françoise Caraco. Sie tut dies nie mit dem Gestus des Enthüllens, sondern spürt vielmehr dem Fremdsein im Eigenen nach. Damit stellt sie die Frage nach dem Begriff der Heimat oder überhaupt nach der Definition unserer Identität neu. Sie zeigt damit auch, dass Migration keine Randerscheinung ist. So wird die Vorstellung eines statischen und verwurzelten Subjekts in diesem Buch auf kaum merkliche Weise unterwandert. Die Künstlerin rehabilitiert und ehrt damit zugleich das Nomadische und Minoritäre.
Die Pessach Haggada (Foto © Françoise Caraco)
Im Herbst zeigt Françoise Caraco im Kulturzentrum Schneidertempel in Istanbul eine Auswahl von Fotografien. Die Ausstellung dauert vom 7. September bis zum 2. Oktober 2022.
In der Schweiz kann das Buch direkt über die Künstlerin bestellt werden: francoise@caraco.ch
Hidden Istanbul
Françoise Caraco
170 x 240 Millimeter
404 Pages
Hardcover
ISBN 9789493146716
Art Paper Editions
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