Bilder, die das Bild hinterfragen

Susanna Koeberle
12. Dezember 2024
Das Verwackelte und Unscharfe wurde zum Markenzeichen von Daido Moriyama. «Tokio», 1969, aus der Serie «Accident, Premeditated or not» (© Daido Moriyama, Daido Moriyama Photo Foundation)

Japan ist das Land der Kirschblüte, der puristischen Ästhetik und der Höflichkeit. Keine Region der Welt vereint so viele Klischees wie das Land der aufgehenden Sonne. Hinter diese zur Perfektion erstarrte Fassade blickt der japanische Fotograf Daido Moriyama seit beinahe 60 Jahren. 1938 in Ikeda (Osaka) geboren, wuchs Moriyama in einem Japan auf, das eben nicht mit dem verherrlichenden westlichen Blick auf das Land übereinstimmt. Das ist deswegen etwas paradox, weil sich Japan in der Nachkriegszeit in vielerlei Hinsicht dem Westen annäherte und an seinen Werten orientierte. Die Amerikanisierung der Städte zeigte sich etwa in der Überflutung des öffentlichen Raums mit Leuchtreklamen oder an den üppigen Auslagen der Geschäfte. Das Faszinosum Masse und Konsum sowie das Zusammenprallen neuer westlicher und traditioneller japanischer Ästhetik zogen den Fotografen in den Bann, als er 1961 von der Provinz nach Tokio ging. Schon zu Beginn seiner Karriere zeigte sich sein ausgeprägtes Interesse für das Geschehen auf der Strasse. Nicht das Aufgeräumte und Inszenierte faszinierte ihn, sondern die Unverfügbarkeit und das Chaotische des Alltags. 

Die Stadt mit anderen Augen sehen: «Tokio», 2000. (© Daido Moriyama, Daido Moriyama Photo Foundation)

Zugleich stellte seine spezifische Art zu fotografieren die Mediatisierung von Bildern infrage. Genau diese reflexive Ebene, die seine Fotografie und seine kritische Haltung gegenüber der gängigen Bildsprache der Medien kennzeichnet, macht seine Arbeit in einer Zeit grassierender Bildüberflutung besonders relevant. Die umfangreiche Retrospektive im Photo Elysée zeigt in einer immersiven und collagenartigen Szenografie wichtige Etappen seines Werkes. Kuratiert wurde die Schau von Thyago Nogueira, dem Leiter der Abteilung für zeitgenössische Fotografie am Instituto Moreira Salles in São Paulo. Nach Stationen in London, Helsinki und Berlin ist die bedeutende Schau nun zum Abschluss in der Schweiz zu sehen. 

Der Gang durch die Ausstellung erlaubt ein Eintauchen in den zuweilen sperrigen und zugleich rauschhaften Kosmos des Fotografen. Als Besucherin spürt man den aufmerksamen und empathischen Blick auf seine Umgebung sogleich; die Bilder entwickeln eine eigentümliche Sogwirkung, die nichts mit Schaulust aus sicherer Distanz gemein hat. Vielmehr hat man das Gefühl, Teil des Geschehens zu werden. Die Bilder nehmen gleichsam Kontakt mit der Betrachterin auf. Wie der Hund seiner bekannten Fotografie «Stray Dog» (Misawa, 1971) schauen sie uns leicht schräg und benebelt an. Übrigens verglich sich Moriyama selber wiederholt mit einem herumstreunenden Hund. 

Dieses Bild steht paradigmatisch für die besondere Bildsprache des Fotografen. Er fotografiert häufig wie beiläufig aus der Hand, ohne den Sucher zu benutzen. (© Daido Moriyama, Daido Moriyama Photo Foundation)
Wimmelbildwand in der Ausstellung (Foto: © Khashayar Javanmardi, Photo Elysée, Plateforme 10)

Seine Anti-Ästhetik legt die polierte Doppelbödigkeit kapitalistischer Versprechen frei. In einem Plakatbild zur Ausstellung scheinen sich diese Mehrfachebenen besonders klar zu verdichten. Wir sehen eine Schaufensterpuppe mit rot geschminkten Lippen, in deren Sonnenbrille sich eine Strassenszene spiegelt, den Fotografen mit seiner Kamera inklusive. In der Brille – gleichzeitig Symbol für Coolness und Konsum, aber auch für das Verbergen des Blickes – zeigt sich die «Realität». Wir haben es mit einem Bild im Bild zu tun, einer Mise en abyme also, die die Verführung der Warenwelt wie auch den Abbildcharakter der Fotografie vorführt. Das Bild wird zum Spiegelbild. Und es zeigt, wie wir schauen.

Plakatbild aus der Serie «Pretty Woman», Tokio, 2017 (© Daido Moriyama, Daido Moriyama Photo Foundation)

Das Dokumentieren des Übersehenen und Unscheinbaren widerspiegelt auch Moriyamas Lebensphilosophie: Für ihn sollte Fotografie zugänglich und demokratisch sein. Was ihm schon immer fernlag, ist eine Sakralisierung der Fotografie als unnahbares und elitäres Kunstwerk. Seine bevorzugten Medien sind deswegen Magazine und Bücher. Es erstaunt auch nicht, dass ihn technische Perfektion nie interessiert hat. Das Grobkörnige und Opake seiner Bilder macht sie offen für verschiedene Lesarten. Dass seine unkonventionelle und radikale Fotografie heute gerade von einer jüngere Generation von Lichtbildkünstlerinnen und Lichtbildkünstlern neu gelesen und rezipiert wird, ist nicht nur Beweis für die Zeitlosigkeit seiner Bildsprache, es zeigt auch ganz allgemein, wie visionär gerade Querdenker sind.

Der Fotograf als Bilderjäger: «Hyogo», 1971, aus der Serie «A Hunter» (© Daido Moriyama, Daido Moriyama Photo Foundation)

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