Sabine Weiss – das Besondere in der Einfachheit
Nadia Bendinelli
20. janvier 2022
New York, USA, 1955 (© Sabine Weiss)
In Paris wurde die Schweizer Fotografin berühmt. Ende Dezember 2021 ist Sabine Weiss mit 97 Jahren gestorben.
Gerne wird sie als letzte Vertreterin der humanistischen Fotografie in Frankreich bezeichnet – eine Zuweisung, die Sabine Weiss mit einem Achselzucken zur Kenntnis nahm. Damals gab es den Begriff nicht, sie fotografierte einfach die Dinge, die ihr gefielen. Ausserdem sah sie sich durch diese Schubladisierung auf einen bestimmten Teil ihres Schaffens reduziert, doch tatsächlich war ihr Arbeitsgebiet viel grösser. Die Strömung hatte ihren Höhepunkt im Frankreich der Nachkriegszeit. Namhafte Repräsentanten wie Robert Doisneau, Willy Ronis, Henri Cartier-Bresson oder Édouard Boubat zählten dazu. Wie das Wort «humanistisch» bereits erahnen lässt, untersuchten die betreffenden Fotografen das Leben der Menschen in ihrem Alltag. Auch Sabine Weiss beschäftigte sich eingehend mit dem, was in den Pariser Strassen ab 1946 zu sehen war, aber eben lange nicht nur damit.
In einem Walliser Dorf geboren, wuchs Sabine Weiss, die damals noch Weber hiess, in Genf auf. Ihr Vater war Chemiker. Durch ihn kannte sie sich schon früh mit Chemikalien aus, und von ihrer Vertrautheit mit chemischen Reaktionen profitierte sie später im Fotolabor. Die junge Sabine Weber war sehr selbstständig, wenn auch keine Rebellin. Ihr Vater gewährte Freiheiten und hatte Vertrauen – keine Selbstverständlichkeit in den 1930er-Jahren. So musste sie nie um ihre Freiheit kämpfen. Ausserdem war das Mädchen sehr tüchtig und arbeitete viel für die Familie, kochte und nähte Kleider – vielleicht auch gezwungenermassen, denn ihre Mutter starb früh, als sie erst dreizehn war. Um den Schmerz zu unterdrücken, sprach die Familie nie über ihren Tod.
Ihre ersten Gehversuche in der Fotografie machte Sabine Weiss bereits mit elf. Bis zuletzt hütete sie in ihrem grossen Archiv eine geklebte Albumseite mit dem Titel «Mon premier film». Darauf zu sehen sind Fotografien rund um ihr Elternhaus und das einzige Bild, das sie von ihrer Mutter besass. Erst mit achtzehn traf sie die damals unkonventionelle Entscheidung, eine Lehre als Fotografin zu absolvieren. Ein Jahr nach dem Abschluss verliess sie die Schweiz, schuld war die Liebe, eine allerdings, die «nirgendwohin führte».
Gitans, Sainte Maries de la Mer, Frankreich, 1960 (© Sabine Weiss)
Porte de Saint Cloud, Paris, Frankreich, 1950 (© Sabine Weiss)
In Paris angekommen, meldete sich die 22-Jährige bei dem deutschen Mode- und Porträtfotograf Willy Maywald mit dem Wunsch, seine Assistentin zu werden. Nach anfänglichem Staunen stellte Maywald die junge Fotografin tatsächlich ein. Abends nach der Arbeit spazierte sie in den Pariser Gassen umher. Mit grossem Interesse fotografierte sie Kinder, den Alltag gewöhnlicher Menschen und auch Obdachlose. Aus der Schweiz kannte sie keine Menschen ohne Wohnsitz. Sie hielt sie eifrig mit ihrer Kamera fest, denn «diese Menschen hatten etwas mit dem Leben dort zu tun». Ihre Ausflüge führten hin und wieder zu Tauschgeschäften: Für das Bild einer Metzgerei bekam sie zum Beispiel ein Kotelett. Eine lustige Anekdote, die ihr unkompliziertes und offenes Wesen zeigt. Die nächtlichen Spaziergänge blieben auch später ihr Vergnügen – dann in Begleitung ihres Mannes, der manchmal auch zu ihrem Sujet wurde. Sabine Weiss beobachtete die Umgebung, ihre Bilder waren nie gestellt. Zuweilen merkten die Beobachteten nicht einmal, dass sie fotografiert wurden. Dann und wann spielten sie aber auch mit ihr und der Kamera, besonders die Kinder.
In einem verborgenen Hinterhof der ville lumière richtete sie sich schon in den ersten Jahren nach ihrer Ankunft ein kleines Atelier ein und teilte es mit ihrem künftigen Mann, dem US-amerikanischen Maler Hugh Weiss (1925–2007). Sabine Weiss bewohnte die Räumlichkeiten bis an ihr Lebensende.
«In einem guten Bild gibt es nicht zu viel Handlung. Ein gutes Foto ist ein einfaches Foto.»Die Einfachheit in allem
Ab 1950 standen einige Reportage-Reisen an, und Hugh Weiss meinte, es wäre pragmatisch gesehen besser, verheiratet zu sein. So könne er sie zurückholen, falls ihr etwas zustossen sollte. Und wie von ihm vorausgeahnt, gab es tatsächlich Schwierigkeiten: Sabine Weiss wurde in Ägypten der Spionage bezichtigt und ausgewiesen. Die Hochzeit war ihr als Festakt nicht wichtig. Für sie zählte nur die grosse Liebe dahinter, die sie als 58 wundervolle gemeinsame Jahre schilderte. Und es war Liebe auf dem ersten Blick! Eigentlich fand sie ihn zu dick und zu alt (obschon er ein Jahr jünger als sie war), und er hatte auch schon fast keine Haare mehr. Kurzum, sie wusste sofort, dass sie mit ihm leben wollte. Sie teilten das Atelier, jeder hatte seinen Bereich. Viele Jahre nach seinem Tod stand im Atelier alles noch so, wie er es zurückgelassen hatte.
Ihre beiden Stile konnten nicht unterschiedlicher sein: Seine Bilder waren bunt, symbolgeladen und fantasievoll, ihre Fotografien hingegen schwarz-weiss, extrem klar und einfach komponiert. Trotzdem verstanden sie sich auch künstlerisch sehr gut. Der Austausch und bisweilen auch die Auseinandersetzungen mit ihm waren ihr wichtig. Ihr gemeinsamer Freundeskreis bestand vorwiegend aus Malern, weniger aus Fotografen. Zusammen hörten sie Opern und Jazzplatten und besuchten Ausstellungen. Sabine Weiss bezeichnete sich als nicht-intellektuell: Sie hatte nicht studiert und die Schule mochte sie auch nicht besonders. 1964 adoptierten sie ihre Tochter Marion.
«Ich bin Handwerkerin, keine Künstlerin», pflegte sie zu sagen. «Ich kreiere nicht, ich konstatiere, ich sehe.» Sabine Weiss mochte die Aufmerksamkeit nicht sehr. Sie sprach von Handwerk auch wegen der aufwendigen analogen Technik, die sie beherrschen musste, und aufgrund der Tatsache, dass sie nichts entwarf oder erfand. Der wahre Künstler war für sie ihr Mann. Er solle ausstellen, meinte sie, nicht sie. Ihre Arbeiten wurden in über 180 Einzelausstellungen gezeigt.
Sabine Weiss hatte keine «Mission», sie wollte nicht politisch handeln. Sie hat nicht für Frauenrechte gekämpft. Es gab zwar zu ihrer Zeit wenige Frauen in der Fotografie, aber sie haben einfach gearbeitet – genau wie die Männer. Bei Genderfragen wirkte sie immer ein wenig irritiert. Sie erzählte dann gerne, die Männer in den Büros seien froh gewesen, mal eine Frau um sich zu haben. Allerdings hiess es schon manchmal: «Madam, gehen Sie zur Seite, lassen sie die Fotografen arbeiten.» Zur Seite ist Sabine Weiss nie gegangen – ohne jedoch kämpferisch oder kokett zu werden. Sie sei einfach «normal» gewesen, erinnerte sie sich später. Kaum in Paris angekommen, arbeitete sie bald sehr viel, hatte also wenig Gelegenheit, sich darüber Gedanken zu machen, ob das Frausein ihr Probleme bereitete.
«Sabine Weiss hat das absolute Auge analog zum absoluten Gehör.»Rundum-Fotografin
Ab den 1950er-Jahren war Sabine Weiss eine verheiratete Frau und eine freiberufliche Fotografin. Ihre «Allergie» gegen die Zuordnung zu bestimmten Strömungen und Schubladisierungen lässt sich spätestens ab diesem Zeitpunkt durch ihre verschiedenen Tätigkeiten erklären: Sie machte sich einen Namen als Werbe- und Modefotografin und erhielt unter anderem ein Vertrag mit der Vogue. Auf diese Arbeit war sie angewiesen, ganz pragmatisch, um davon zu leben. Im Laufe der Zeit porträtierte sie allerlei Berühmtheiten wie Ella Fitzgerald, Brigitte Bardot, Alberto Giacometti, Igor Strawinsky, Joan Miro oder Maria Callas. Dazu fotografierte sie viele Musiker und Orchester, denn sie arbeitete auch für ein Plattenlabel.
Chez Dior, Paris, Frankreich, 1958 (© Sabine Weiss)
Mode pour Vogue, Frankreich, 1955 (© Sabine Weiss)
Als die Fotografin 28 Jahre alt war, wollte Michel de Brunhoff, der Chefredaktor der Vogue, ihre Strassenbilder und Porträts sehen. Als sie diese vorbeibrachte, sass neben de Brunhoff auch Robert Doisneau im Büro. Der berühmte Fotograf war begeistert von ihrer Arbeit und verschaffte ihr Zutritt zur internationalen Bildagentur Rapho – ein weiteres Sprungbrett für ihre Karriere.
Reportagen in aller Welt liebte Sabine Weiss am meisten. Sie war davon begeistert, andere Welten und Menschen zu entdecken und kennenzulernen. Dabei fand sie das Strassenleben wieder, das ihr aus dem Paris der Nachkriegszeit vertraut war und dort später in dieser Form mehr und mehr verschwand. Da waren die Menschen immer noch auf den Strassen und übten ihre Alltagsaktivitäten aus. Sabine Weiss’ Reportagen erschienen regelmässig in englischer, französischer und deutscher Sprache in namhaften Zeitschriften.
Ihre Fotografie ist ganz von ihrem unkomplizierten Wesen geprägt: Klarheit, einfache Kompositionen und ein aufrichtiges Interesse für ihr Gegenüber, ganz egal ob nun Obdachloser oder Berühmtheit, zeichnen sie aus. Sie mochte die Menschen und den Kontakt mit ihnen. Ihre Aufmerksamkeit galt in erster Linie der Atmosphäre und den Emotionen. Sie vermochte eine intime, gelassene zwischenmenschliche Beziehung zu erschaffen – Zeitgenossen bestätigen immer wieder, dass man sich mit ihr einfach wohlfühlte. Rückblickend staunte Sabine Weiss selbst über die Menge an ganz unterschiedlichen Arbeiten, die sie im Laufe ihres Lebens und oft parallel zueinander geschaffen hat. Sie habe viel Glück gehabt, meinte sie, es gäbe sicherlich viele unbekannte Fotografen, die besser als sie seien.
Vor wenigen Jahren beschloss Sabine Weiss, nach ihrem Tod ihr ganzes Archiv dem Musée Photo Elisée in Lausanne zu schenken. Sie hatte bereits alles gründlich klassifiziert – ihre Assistentin Laure Augustins meinte, man finde im Archiv immer alles. Die Archivierung half Sabine Weiss, mit der Trauer nach dem Tod ihres Mannes umzugehen. Ab 2014 fotografierte sie nicht mehr: Schmerzen in den Schultern nahmen ihr die Schnelligkeit. Sie könne nicht mehr intuitiv genug arbeiten, erklärte sie. Fortan widmete sie ihrem Archiv ihre ganze Aufmerksamkeit.
Das Musée Photo Elisée plant eine grosse Retrospektive für das Jahr 2024.