Gehäkelte Architektur

Susanna Koeberle
2. julio 2018
Die Installation «GaiaMotherTree» des brasilianischen Künstlers Ernesto Neto. Bild: Mark Niedermann

Bestimmte Laute hätten die Erde geschaffen, überhaupt alles, was zur Erde gehöre: Luft, Wasser, Pflanzen, Tiere und Menschen, sagt einer der Anführer der Huni Kuin. Die Leute sitzen am Boden auf eine weiche Stoffunterlage gebettet und hören ihm gespannt zu. Der im brasilianisches Amazonasgebiet lebende Vertreter einer indigenen Bevölkerungsgruppe ist einer von vielen, der am Tag nach der Eröffnung der Rieseninstallation von Ernesto Neto zur Assembleia MotherTree eingeladen wurde. Das Forum soll dem interdisziplinären und interkulturellen Austausch dienen und ist Teil des Rahmenprogramms von «GaiaMotherTree». Der brasilianische Künstler hat in der Halle des Zürcher Hauptbahnhofs mit Unterstützung der Fondation Beyeler eine 20 Meter hohe Netzskulptur aus farbigen Stoffbändern geschaffen, die in wochenlanger Arbeit mit Fingerhäkeltechnik gefertigt wurde. «GaiaMotheTree» soll einen überdimensionalen Baum darstellen. Die Vorbereitungszeit für das grösste Werk im öffentlichen Raum, das Neto jemals realisiert hat, dauerte vier Jahre. Zum Einsatz kamen 10'220 Laufmeter Baumwollstoff und 420 Kilo gemahlene Gewürze. Stabilisiert wird das Konstrukt durch 840 Kilo Erde, die rund um die Installation in tropfenförmigen Gegengewichten verteilt ist. In der Mitte hängt das zentrale Gegengewicht mit 70 Kilo Saatgut. Soweit zu den Eckdaten dieses beindruckenden Kunstwerks. Die eigentliche Dimension davon erfährt man allerdings erst, wenn man diese «Architektur» betritt. Er möchte mit seinen begehbaren Installationen die Wahrnehmung der Menschen schulen, sagt der international tätige Künstler.

An der «Assembleia MotherTree» sprachen Vertrerter der Huni Kuin sowie andere Delegierte. Bild: sk

Sitzt man in Innern wie für die Eröffnungszeremonie oder die erwähnte Assembleia nimmt man einerseits Teil am wuseligen Geschehen des Bahnhofs, zugleich hört man die Stimmen und Klänge wie durch einen Filter, als befände man sich doch nicht im Zentrum eines hektischen Ortes. Das geschieht interessanterweise ganz automatisch, der Körper stellt sich instinktiv darauf ein. Und lauscht man den Lauten der Huni Kuin wird man sanft fortgetragen. Dieses Innehalten kann man Meditation nennen oder wie auch immer. Es scheint eine Form von Spiritualität zu sein, die universell ist. Es sei dieses Verbinden mit dem Geist der Mutter Erde (Gaia eben), das eine Wende herbeiführen könne, meint ein weiterer Huni Kuin-Delegierter. Die Stämme im Amazonas haben eine profunde Beziehung zur Natur und glauben, dass man mit Pflanzen kommunizieren könne. «Der Wald ist unser Zuhause und unsere Schule», sagt er weiter. An der Assembleia wird auch darüber diskutiert, ob Pflanzen fühlende Wesen seien.

All diese Themen stehen auch im Zentrum von Ernesto Netos Schaffen. Seit 2013 arbeitet der Künstler eng mit den Huni Kuin zusammen. Er kreiert mit seinen Installationen gleichsam Räume, die das Wissen dieser Stämme veranschaulichen und Fragen der Beziehung zwischen Mensch und Natur in die Städte bringen. Doch sie tun weit mehr als das, denn es geht nicht um esoterisches Geschwätz, sondern um lebenswichtige Themen wie Ökologie und Nachhaltigkeit. Wem das alles zu konfus ist, der kann sich auf die Wissenschaft stützen. So haben Forscher herausgefunden, dass das Wurzelgeflecht von Bäumen ein Netzwerk bildet, das dem Austausch von Informationen und Nährstoffen dient. Sie nennen diese Bäume mother tree. Was nichts anderes heisst, als dass die Wissenschaft manchmal Dinge ans Licht bringt, die eigentlich schon «bekannt» waren. Vielleicht erinnert uns Ernesto Netos Baum auch an dieses Wissen, von dem wir nichts wussten.
 

Ernesto Neto zählt zu den bedeutendsten zeitgenössischen Künstlern Brasiliens. Bild: Niels Fabaek/Kunsten Museum of Modern Art Aalborg

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