Ernst, doch ohne Bitterkeit – Literaturnobelpreis für Abdulrazak Gurnah

Elias Baumgarten
14. October 2021
Illustration: Niklas Elmehed © Nobel Prize Outreach

«Die Schweden aber haben es zum zweiten Mal in Folge geschafft, einen Preisträger zu küren, dem hauptsächlich eines fehlt: Leserinnen und Leser» – so urteilt Roman Bucheli in der Neuen Zürcher Zeitung über die Entscheidung der Schwedischen Akademie, Abdulrazak Gurnah (*1948) mit dem Literaturnobelpreis auszuzeichnen. Für den Journalisten und Literaturkritiker ist der Schritt nicht förderlich, um das ramponierte Image der Institution wieder aufzupolieren, das unter anderem durch eine #MeToo-Affäre und die Aussetzung der Preisverleihung im Jahr 2018 erheblichen Schaden genommen hat. Der Preis werde mit der neuerlich überraschenden Wahl in der Bedeutungslosigkeit versinken, prophezeit Bucheli. Tatsächlich ist Gurnah, der der muslimischen Minderheit auf Sansibar entstammt und seit Ende der 1960er-Jahre in England lebt, in der Schweiz nicht sonderlich bekannt. Von seinen zehn Romanen, die er neben zahlreichen Kurzgeschichten und wissenschaftlichen Essays geschrieben hat, wurden nur fünf auf Deutsch übersetzt, der letzte bereits 2006 – und die sind allesamt vergriffen. Gurnahs seither erschienene Romane wurden nicht übersetzt, denn kein Verlag glaubte an ihr Potenzial. Nicht anders sieht es mit Übersetzungen auf Italienisch (drei) und Französisch aus. Ein italienischer Verlag lehnte unlängst die Anfrage der Mailänder Professorin Nicoletta Brazzelli ab, weitere Übersetzungen aufzugleisen, wie sie im Interview mit dem italienischen Magazin Rivista Studio verriet. Wie in Deutschland sieht man also auch in Italien verlagsseitig kein ausreichendes Interesse bei der Leserschaft. Doch sagt der bisher ausgebliebene Erfolge ausserhalb des englischen Sprachraums schon etwas über die Qualität der Bücher des emeritierten Professors der University of Kent aus? Muss schlecht sein, was bei Masse floppt? Ist ein Verkaufsschlager automatisch hochstehende Literatur? Übrigens: Wenn es derzeit auch an Lesestoff von Gurnah auf Deutsch fehlt, so gibt es in seinem Werk doch einen beachtlichen Bezug zum deutschen Sprachraum: Sein Buch «Ferne Gestade» («By the Sea», 2001) spielt zu grossen Teilen in der ehemaligen DDR, sein neuester Roman «Afterlives» (2020) thematisiert die deutsche Kolonialpolitik, deren Aufarbeitung in Deutschland jüngst Fahrt aufgenommen hat.

Warum so unbekannt?

Doch wie kommt es, dass sich Gurnahs Bücher in Kontinentaleuropa bis anhin nicht durchsetzen konnten? Insa Wilke, die vielleicht aktuell bekannteste deutsche Literaturkritikerin, erklärte uns im Interview, was Romane derzeit brauchen, um erfolgreich zu sein: vertraute Szenarien, beruhigende Geschichten, bloss nichts Unbequemes, Bestätigung dessen, was man bereits vor der Lektüre wusste. Und vor allem: Leicht konsumierbar müssen sie sein. All das erfüllen Gurnahs Bücher nicht. Er beschäftigt sich mit dem spätestens seit 2015 hochgradig emotional aufgeladenen Themenkomplex Migration – und dies noch dazu nicht in vertrauten Schwarz-Weiss-Bildern von Tätern und Opfern. Seine Werke sind anspruchsvoll. Gurnahs Erzählstrukturen sind komplex, teils fragmentarisch. Seine Sprache ist hybrid: Seit seiner Flucht nach England schreibt er zwar ganz bewusst auf Englisch und nicht in seiner Muttersprache, doch baut Einsprengsel aus Suaheli und Arabisch ein. Seine Romane verlangen nach einer zeitaufwendigen Auseinandersetzung – das ist ziemlich anachronistisch. Doch wer sich auf sie einlässt, kann sie schätzen lernen: Nicoletta Brazzelli, die als Italiens vielleicht grösste Kennerin Gurnahs gilt, behandelt in ihren Kursen jedes Jahr mindestens einen Roman des frischgebackenen Nobelpreisträgers und hat ihn 2013 für eine Diskussion und mehrere Lesungen nach Mailand eingeladen, die grössten Anklang fanden; sie erzählt, ihre Studierenden seien immer wieder zuverlässig begeistert von Gurnahs Texten.

«Als ich zehn oder elf war, dachte ich nicht daran, Schriftsteller zu werden. […] Ich begann erst mit 20, als ich in England war und einige Probleme hatte. Und für mich war klar, dass Englisch die Sprache für mich war, denn es war die Sprache, in der ich Bücher gelesen habe.»

Abdulrazak Gurnah

Eine kalkulierte Entscheidung, doch nicht verkehrt

Gewiss, man kann die Wahl des Nobelpreiskomitees kritisieren: In Zeiten ausgeprägter Flüchtlingsströme einen Schriftsteller als Nachfolger der in Mitteleuropa ebenfalls weniger bekannten US-amerikanischen Lyrikerin und Essayistin Louise Glück auszuzeichnen, der sich vornehmlich an Fragen der Migration und der Identität abarbeitet, mag nicht originell sein. Auch den Preis Jahrzehnte nach Wole Soyinka (1986) endlich wieder nach Afrika zu vergeben, ist eine erwartungsgemässe, politisch korrekte Entscheidung. Dem pflichtete auch der deutsche Afrikanist Manfred Loimeier im Interview mit Katharina Borchardt für den lesenswert-Podcast von SWR 2 bei, der die Auszeichnung des 2006 in die Royal Society of Literature aufgenommenen Schriftstellers an sich sehr begrüsst. Was macht Gurnahs Romane, die vielfach autobiografische Elemente enthalten wie «Schwarz auf Weiss» («Pilgrims Way», 1988), also noch aus? Es ist wohl seine differenzierte Sicht auf das Thema Migration. Im gerade erwähnten Buch erzählt er zum Beispiel die Geschichte eines Tansaniers namens Daud, der nach England kommt und dort Rassismus, Gewalt und Ausgrenzung erfährt. Erst als er Catherine kennenlernt, die sich ehrlich für ihn interessiert, ändert sich sein Bild von seiner neuen Heimat und den Menschen dort allmählich. Zu seinem Freundeskreis gehören auch Lloyd, ein rassistischer Weisser, und Karta, Anhänger des Schwarzen Nationalismus. Wie schon erwähnt: Schwarz-Weiss-Denken liegt Gurnah fern. Bei ihm werden Migranten nicht in eine blosse Opferrolle gedrängt. Er schreibt, wie sein Übersetzer Thomas Brückner in einem lesenswerten Porträt für die Neue Zürcher Zeitung erklärt, nicht aus der Perspektive des Anklägers, sondern plädiert in seinen Büchern für Toleranz. Oder wie Brückner es in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk sagte: «Er vermeidet einfache Urteile und Lösungen.»

«Das Grinsen des Alten war für ihn genau jenes Lächeln, das einst ein Weltreich erobert hatte. Das Lächeln eines Taschendiebs, voller Hintergedanken und nur darauf aus, das unschuldige Opfer abzulenken und zu besänftigen, während sich der Dieb über die Wertsachen hermachte.»

Daud kann die Erfahrungen mit den Kolonialherren seiner ersten Heimat nicht abschütteln.

Qualitätsvoll, aber am Ende nur ein Oneliner?

Bleibt die Frage, ob es für den wichtigsten Literaturpreis reicht, sich immerzu mit ein und demselben Themenkomplex zu befassen. Ja, findet Manfred Loimeier. Denn zwar gebe es kaum thematische Veränderungen im Werk des Experten für Englisch und postkoloniale Literatur, doch seine Texte würden fortwährend feinfühliger. Und noch eine wichtigere Besonderheit ist ihm aufgefallen: Gurnahs Figuren werden tendenziell älter, was zu seiner Vorliebe für das Verarbeiten autobiografischer Bezüge passt. Das heisst, der Nobelpreisträger dreht sich nur auf den ersten Blick thematisch im Kreis, in Wahrheit arbeitet er immer neue Facetten und Aspekte heraus. Es gibt bei ihm eine Vielfalt in derselben Grundthematik.

Zweite Chance?

Gut möglich, dass bald viele von Abdulrazak Gurnahs Werken auf Deutsch, Italienisch und Französisch verfügbar sein werden, sodass sie auch hierzulande Menschen für sich entdecken können, die ungern oder gar nicht auf Englisch lesen. Allerdings bleibt die Frage, wie gut sich Gurnahs hybride Sprache überhaupt beim Übersetzen bewahren lässt. Wird hierbei nicht Qualität verpuffen? Wahrscheinlich ist es naiv, tatsächlich daran zu glauben, doch es wäre schön, würde mit der Auszeichnung das Interesse an der Literatur anderer Kulturkreise und besonders jener aus Afrika wachsen und würden anspruchsvolle Romane mehr Aufmerksamkeit erhalten, sodass es sich lohnt, sie für das interessierte Publikum zu verlegen.


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