Vorbild Ozeandampfer?

Manuel Pestalozzi
16. November 2015
Bild: Stefano Rellandini / Reuters

Die grossen Ungetüme wurden im frühen 20 Jahrhundert als industriell gefertigte Wohnstätten interpetiert. Dank ihrer kompakter Form und der von A bis Z durchgeplanten Funktionalität können sie Passagieren mit unterschiedlichen Budgets einen angemessenen Komfort bieten. Kein Wunder, dass sich Architektinnen und Architekten, die sich nach einer Entkrustung der Berufslehre sehnten, auf die grossen Passagierschiffe als Vorbilder stürzten und in deren industrieller Ästhetik Quellen der Inspiration fanden. In seinem Buch «vers une architecture» setzte Le Corbusier dem Ozeandmpfer quasi ein Denkmal.
 
Obwohl wir heute für Langstrecken fliegen, gibt es sie immer noch, die riesigen Passagierschiffe. Sie dienen primär aber nicht mehr dem «normalen Verkehr» zwischen Hafenstädten sondern Touristen, die auf einer Kreuzfahrt die grosse, weite Welt kennenlernen möchten. Die ferienhalber sich zu interkontinentalen Rundfahrten versammelnden Massen schätzen die Gemächlichkeit der Fortbewegung und den Logenplatz, den man bei der Annäherung an Destinationen der Sehnsucht auf Nummer sicher hat. Besonders für betagte oder in ihrer Beweglichkeit behinderte Menschen hat diese Reiseart zahlreiche Vorteile.
 
Leider steuern die schwimmenden Touristenpaläste nicht nur Häfen an, die ihren Ausmassen gewachsen sind, sondern auch historische Städte wie Venedig oder karibische Inseln mit wenigen Einwohnerinnen und Einwohnern. Diese werden durch die riesigen Blechmassen und die in grossen Mengen ausschwärmenden Passagiere beinahe erdrückt. Auch Orte, die sich grundsätzlich auf Touristen freuen, fühlen sich in zunehmendem Masse überfordert, wie vor einigen Tagen in einem Artikel in der NZZ nachzulesen war.
 
Soll man daraus schliessen, dass die Kreuzfahrtsschiffe der Gegenwart von Architektinnen und Architekten als Mahnmale einer übertriebenen Verdichtung gelesen werden sollten? Wohl eher nicht. Denn die Qualitäten, welche ihre Vorväter und –mütter beeindruckt haben, zeigen die aktuellen Versionen noch immer. Man hat das Gefühl, dass sie sich von ihren Vorgängern nicht übermässig unterscheiden und – analog zu Passagierflugzeugen – eine Idealform und -typologie gefunden haben. Noch immer kann man von diesen Schiffen lernen.
 
Das Problem sollte auf dem Weg des gegenseitigen Respekts angegangen werden. Wenn zwei unterschiedliche Massstäbe aufeinandertreffen, braucht es ein Dazwischen, das vermitteln kann. Dies können kleinere Boote sein, die beispielsweise nicht nur Landgänge sondern auch Um- und Durchfahrten anbieten. Möglichkeiten zu einer Diversivizierung des Angebots und einer Dosierung der Landgänge sind garantiert vorhanden. Respekt würde auch bedeuten, dass sich das Schiff für eine Destination mehr Zeit nimmt und die Landgänge über eine längere Periode verteilt. Dies würde zu einem erträglicheren Gegenüber zwischen Wundern der Technik und Wundern der Kulturgeschichte oder der Natur führen.
 

Respekt durch Distanz ist durchaus möglich. Kreuzfahrtsschiff vor Split, an der Küste Dalmatiens. Bild: Manuel Pestalozzi

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