Ersatzneubauten: Eine kritische Inventur

Leonie Charlotte Wagner
2. März 2023
Abriss des Schröderstifts in Hamburg im Mai 2022 (Foto: Noemi Grodtke)

Zu den praktischen Übungen, die der französische Schriftsteller Georges Perec (1936–1982) in dem Buch «Träume von Räumen» seinen Leser*innen anbietet, gehört, «sich im Falle eines neuen Wohnhauses zu erinnern versuchen, was vorher dort war.»[1] In Zürich wird gerade so viel abgerissen und neu gebaut, dass Perecs Aufgabe zu einer einzigen Überforderung wird. Mit zusammengekniffenen Augen stehen die Zürcher*innen vor den filigranen Baugespannen, die mahnend in die Höhe ragen, und versuchen sich zähneknirschend zu erinnern, was vorher dort stand. Gleich im ersten Raum der Ausstellung «Verdichtung oder Verdrängung? Wenn Neubauten ersetzen» im Zentrum für Architektur (ZAZ) wird mit dem Online-Abriss-Atlas von Countdown2030 dem Vergessen mit einem kollektiven Orte-Gedächtnis Abhilfe geschaffen. Besucher*innen können Erinnerungen an abgerissene Bauten in einer Karte festhalten und Ersatzneubauprojekte kartografieren. Wie die gesamte Ausstellung ist der Abriss-Atlas eine Reaktion auf die Geschwindigkeit und Unübersichtlichkeit der aktuellen Verdichtungspraxis.

Blick in die Ausstellung «Verdichtung oder Verdrängung? Wenn Neubauten ersetzen» im ZAZ. Zu sehen ist der Raum «Ersatzneubau: Eine globale Geschichte». Dieser Teil der Schau wurde von Studierenden des MAS in Geschichte und Theorie der Architektur des Instituts gta der ETH Zürich entwickelt. (Foto: Maria-Theresa Lampe)
Ausstellungsansicht, Raum «Ersatzneubau: Eine globale Geschichte», MAS ETH in Geschichte und Theorie der Architektur (Foto: Maria-Theresa Lampe)
Verdichtung und Verdrängung in Zürich: Vier Ersatzneubauten

Einer der drei Ausstellungsräume widmet sich anhand von vier in der Stadt Zürich verteilten aktuellen Ersatzneubauprojekten der lokalen Verdichtungspolitik. Studierende des MAS Housing nahmen die Perspektive der Bewohner*innen und, wann immer möglich, die Perspektive der Eigentümerschaft – eine Genossenschaft, zwei Versicherungen und eine Grossbank – in den Blick. Da sich mit der Baugenossenschaft nur eine (!) der vier Eigentümerinnen zu einem Forschungsgespräch bereit erklärte, liegt der Schwerpunkt auf der Sichtweise der Bewohnenden. 

Für alle Ersatzneubauten wurden der Umsiedlungsprozess und die Kommunikation zwischen Mieter*innen und Eigentümerschaft untersucht. Die Umgangsformen der Eigentümerschaft reichen von intransparenter Kommunikation und keinerlei Unterstützung bei der Umsiedlung im Fall des Projekts Park Neumünster bis hin zum Rückkehrrecht und Bemühungen, Wohnungen im Quartier zu finden, wie beim Projekt Lerchenhalde. Auch der Lebenszyklus der Bestandsbauten ist sehr unterschiedlich: Das jüngste dem Abriss geweihte Gebäude (Park Neumünster, Baujahr 1982) steht erst seit 41, das älteste seit 82 Jahren (Küngenmatt, Baujahr 1941). In drei der vier Fällen wird die Anzahl der Bewohnenden durch die Ersatzneubauten um circa 40 bis 50 Prozent erhöht. Zum Park Neumünster liegen noch keine Daten vor. 

Aus der in der Ausstellung gezeigten Korrespondenz zwischen Mieter*innen der Anlage Park Neumünster und der Eigentümerschaft sprechen die zeitgenössischen Abriss-Argumente. Die Eigentümerin, eine Rückversicherung, schreibt: 

«Die Eigentümerschaft will ihren Mieterinnen und Mietern ein zeitgemässes Wohnangebot bieten. Es liegt in der Natur der Sache, dass vor Jahrzehnten erstellte Liegenschaften heutigen Anforderungen an Wohnkomfort, Energieeffizienz und Klimaschutz nicht mehr entsprechen. Die Erneuerung der Wohnsubstanz im Rahmen des Bewirtschaftungszyklus und unter Berücksichtigung der Lebensdauer der Liegenschaften führt für die betroffenen Mieterinnen und Mieter unweigerlich zu einschneidenden Veränderungen. Sie liegt aber im gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Interesse und leistet über verbesserte Energienutzung, verringerte Emissionen und insgesamt höhere Gebäudeeffizienz auch einen wichtigen Beitrag zu den Klimazielen der Stadt Zürich. Den neuen Mieterinnen und Mietern kommt sodann infolge Erneuerung auch ein höherer Wohnkomfort zugute.»[2]

Ausstellungsansicht, Raum «Ersatzneubau: Eine globale Geschichte», MAS ETH in Geschichte und Theorie der Architektur (Foto: Maria-Theresa Lampe)

Hier werden die vermeintliche Obsoleszenz des Wohnungsstandards und sogar ökologische Argumente für einen Abriss eines erst 1982 (!) erstellten Gebäudes angeführt. Dass sich hinter den Argumenten des Wohnkomforts und des «Klimaschutzes» vor allem wirtschaftliche Interessen verbergen, ist kein Geheimnis. Ausserdem stellt sich die Frage, für wen der Wohnkomfort höher wird und wer eigentlich entschieden hat, dass das der Wille der Zürcher*innen ist. 

Das Argument des unzeitgemässen Wohnstandards wurde auch in der Lerchenhalde und beim Projekt Küngenmatt als Legitimierung für einen Ersatzneubau angeführt. «Man sagt uns, diese Häuser seien alt, die Wohnungen zu klein, die Zimmer nur Kammern und die Grundrisse falsch. Aber uns gefallen diese Kleinwohnungen, lieber ein kleines Zimmer mehr und keine dieser raumhohen Fenster»[3], entgegnet ein Mieter des Bestandsbaus Küngenmatt, der erst vor wenigen Jahren saniert wurde und nun durch einen Neubau von Graber Pulver Architekten ersetzt werden soll.

Da die Schicksale der Betroffenen in der Ausstellung eine grosse Rolle spielen (nicht zuletzt, weil sich die Eigentümer*innen nicht in der Lage sahen, an Forschungsgesprächen teilzunehmen), wird die Ohnmacht der Mieter*innen im Marktgeschehen deutlich. Sie sind zum Spielball von Finanzialisierungsprozessen geworden und sehen ihr Recht auf Wohnen nicht gesichert. 

Ausstellungsansicht, Raum «Ersatzneubau in Zürich», MAS ETH Housing (Foto: Maria-Theresa Lampe)
Die Abriss-Argumentations-Maschinerie

Dass Abriss und Neubau auch in der Vergangenheit in jeweils passende, wenn auch nicht weniger widersprüchliche und volatile Argumente gekleidet wurden, zeigen die Arbeiten der Studierenden des MAS in Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hätten statt «Nachhaltigkeit», «Qualität» und «Urbanität» Argumente wie «Hygiene», «Tugend» und «Bezahlbarkeit» den grossflächigen Abriss und Neubau legitimiert. 

Die acht Fallstudien aus Europa, Nordamerika und Asien machen deutlich, dass Ersatzneubauten nicht bloss Mittel zum Zweck sind, um mehr Wohnraum zu schaffen, sondern integraler Bestandteil von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Agenden. Eine Gruppe von Studierenden beschäftigte sich mit dem 2003 gesprengten Sozialwohnungshochhaus in der Via Artom in Turin. Das Gebäude war Teil einer schnell und günstig konstruierten 1960er-Jahre-Siedlung an der Peripherie der italienischen Metropole, die aufgrund von mangelndem Unterhalt und einer hohen Konzentration von Armut zum vermeintlichen «Problemviertel» wurde und starker Stigmatisierung ausgesetzt war. Ursprünglich war der Totalumbau der Siedlung geplant, letztendlich wurden aber nur zwei von acht Hochhäusern abgerissen und durch einen Neubau ersetzt, der weniger dicht gebaut und auf junge mittelständische Familien ausgerichtet ist. Es wurde baulich und sozial ent-dichtet. Im Fall der Via Artom wurde die Sprengung der Hochhäuser als Symbol für den Neuanfang im Quartier medial geradezu gefeiert. Fragen nach der sozialen und ökologischen Legitimität einer weniger dichten Bebauung rückten völlig in den Hintergrund, stattdessen wurde der Abriss als politische Erfolgsgeschichte gelesen, als Bruch mit dem Vergangenen. 

Die von den Studierenden untersuchten Beispiele, die im ZAZ in als Vitrinen umgenutzten Fenstern abgerissener Zürcher Bauten ausgestellt sind, machen deutlich, dass je nach soziopolitischem Kontext andere Abriss-Fürsprachen in den Vordergrund treten, die teilweise schon nach wenigen Jahren an Selbstverständlichkeit einbüssen. 

Ausstellungsansicht, Raum «Newrope: Karte der Potenziale», Newrope/Professur für Architektur und Urbane Transformation der ETH Zürich (Foto: Maria-Theresa Lampe)
Fallanalysen als politisches Druckmittel

Die Abriss-und-Neubau-Politik mit konkreten Fallbeispielen zu untersuchen, ist ein sehr konstruktiver Beitrag zur Verdichtungsdebatte, da sich die effektive Verdichtung und die Sozial- und Umweltverträglichkeit von Projekt zu Projekt stark unterscheiden. Pauschallösungen wie ein Abriss-Moratorium sind zwar als politisches Statement kraftvoll, lassen sich aber nicht – zumindest nicht ohne ungerecht zu werden – jeder spezifischen Bausituation überstülpen. So formulieren die Ausstellungsmacher*innen in einem Analysetext, dass der Abriss der vier in Zürich untersuchten Wohnbauten nicht in allen Fällen unberechtigt sei. Mit einigen Projekten würden bedeutend mehr Wohnungen erstellt, die Mieten seien zwar höher, aber immer noch erschwinglich, und den Bewohner*innen sei ein Rückkehrrecht eingeräumt worden. In anderen Fällen könnten jedoch weder Alter noch Qualität der Gebäude einen Abriss rechtfertigen, zumal durch den Ersatzneubau nicht genügend neuer Wohnraum geschaffen werde. Die historischen Beispiele in der Ausstellung zeigen, wie Abriss und Neubau immer wieder in wechselnde Argumente gekleidet wurden, wodurch auch die aktuelle Ersatzneubau-Praxis nicht mehr als Dogma erscheint, sondern verhandelbar wird.

Mit der Untersuchung von Verdrängungsmechanismen liegt der Fokus der Ausstellung klar auf den sozialen Auswirkungen der Verdichtung. Spannend wäre es, die Diskussion in einem nächsten Schritt – vielleicht ja in einer kommenden Ausstellung? – um die ökologischen Auswirkungen heutiger Ersatzneubauten zu ergänzen.

Die Analyse von Fallbeispielen wirkt wie eine Reaktion auf die unübersichtliche Verdichtungsstrategie der Stadt Zürich, die aufgrund mangelnder Baulandreserven im grossen Stil auf Verdichtung durch Ersatzneubauten setzt, ohne die sozialen und ökologischen Auswirkungen von Abriss und Neubau systematisch zu verfolgen. Die Ausstellung dreht den Spiess gewissermassen um: Wenn Ersatzneubauten bisher als einzig mögliche und selbstverständliche städtische Verdichtungsstrategie galten, werden sie hier einer kritischen Inventur unterzogen und auf ihr Verdichtungsversprechen und ihre sozialen Auswirkungen hin überprüft. Ein wichtiger Schritt, um der Öffentlichkeit Informationen über konkrete Ersatzneubauprojekte zu liefern, eine systematische Analyse sozialer und ökologischer Folgen von Ersatzneubauprojekten anzustossen und Druck auf Eigentümer*innen und Politik auszuüben. 

 

[1] Geoges Perec, «Träume von Räumen» (1974), Zürich und Berlin, 2016, S. 76
[2] und [3] Die Zitate stammen aus der Ausstellung.

Die Ausstellung «Verdichtung oder Verdrängung? Wenn Neubauten ersetzen» wurde mit Studierenden des MAS in Geschichte und Theorie der Architektur und des MAS in Housing des Departements Architektur der ETH Zürich erarbeitet. Zu der Schau gehören auch Gastbeiträge von Countdown2030, iG Nicht im Heuried, Mieten-Marta und Newrope, der Professur für Architektur und Urbane Transformation der ETHZ.

Die Ausstellung ist noch bis zum 23. April dieses Jahres im ZAZ (Höschgasse 3, 8008 Zürich) zu sehen. Die Öffnungszeiten sind mittwochs bis sonntags von 14 bis 18 Uhr.


Andere Artikel in dieser Kategorie