Ein multipler Erfahrungsraum

Susanna Koeberle
26. August 2021
Das Künstlerkollektiv Fragmentin platzierte eine 21 Meter lange Antenne im Kirchenraum. (Foto: vandy studio)

Atmen ist etwas Universelles. Der Vorgang, mit dem unser Leben beginnt und endet, hat eine banale wie auch eine spirituelle Bedeutung. So vertraut uns diese Tätigkeit auch ist: Sie bleibt ein Leben lang unsichtbar. Das Wort Geist ist auf Hebräisch («ruach») wie auch auf Griechisch («pneuma») gleichbedeutend mit Atem oder Wind, es steht zugleich für die Art und Weise, wie Gott mit dem Menschen kommuniziert. Gerade der Aspekt der Kommunikation (beziehungsweise der Kommunikationstechnologien) interessiert das Lausanner Künstlerkollektiv Fragmentin schon seit längerem. Das Trio – bestehend aus Laura Perrenoud, David Colombini und Marc Dubois – lernte sich während des Studiums an der ECAL kennen und arbeitet seit 2014 an der Schnittstelle zwischen Interactive Design, Informatik, Video, Performance und räumlicher Installation. In ihrer Praxis untersuchen die drei Künstler*innen die Auswirkung von Technologie auf unseren Alltag und hinterfragen damit auch gängige Denkmuster und gesellschaftliche Normen. Das Bild der elektromagnetischen Strahlung (oder Welle) steht heute paradigmatisch für Kommunikation. Klang- und Lichtwellen sind zudem für das Auge unsichtbar, stellen also wie der Atem quasi ein Abstraktum dar.

Aus den Parabolempfängern ertönen verschiedene Texte, die das Thema Welle aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. (Foto: vandy studio)

Die installative Arbeit «Paraboles ulx-56834» in der Kirche Saint-François verknüpft über die Analogie der Kommunikation Atem und Welle miteinander. Das tut sie zunächst in relativ brachialer Form: Mitten im Kirchenschiff treffen wir auf eine in drei Stücke geteilte und insgesamt 21 Meter lange Parabolantenne, die teilweise an der Kirchendecke hängt. Vor dem Montieren des fast 1,5 Tonnen schweren Objekts – notabene kein neu hergestelltes, sondern ein recyceltes Stück – mussten zunächst technische Abklärungen vorgenommen werden. Mehrere Parabolempfänger sind ebenfalls Teil der Installation. Das Ganze wirkt, als ob man soeben eine Baustelle betreten hätte. Was auf den ersten Blick als gewaltsamer Eingriff in einen sakralen Raum erscheint, entpuppt sich in mehrfacher Hinsicht als Generator von Bedeutung – und überdies als aussergewöhnlicher Erfahrungsraum. So betrachtet betont das Kunstwerk von Fragmentin die spirituelle Ebene des Raumes, wie dies Kunst in Kirchen schon seit vielen Jahrhunderten tut. Die Arbeit ruft zur Einkehr auf und schafft zugleich Raum für Fragen.

Kunst als Fremdkörper, der einen Echoraum schafft. (Foto: vandy studio)

Von Anfang an stand für das Kollektiv fest, dass es für die Umsetzung seines Kunstwerks auf das Wissen und Können von Spezialistinnen aus anderen Disziplinen zurückgreifen wollte. Diese Exkurse, Anregungen und Gedanken sind in der Installation als Audiobeiträge zu hören. Ein Anthropologe, eine Dichterin, eine Wissenschaftlerin, ein Medienwissenschaftler und zwei Soundkünstlerinnen beleuchten das Thema Wellen aus unterschiedlichen Perspektiven. Fragmentin hat alte Antennen wiederverwendet und sie mit beweglichen Lautsprechern versehen. Die Küsntler*innen verstehen diesen Vorgang als Form des «Hackens». Über diese Lautsprecher werden die vorgelesenen Texte und die Klänge ausgestrahlt. Dadurch entsteht auch ein Moment der Verwirrung, weil nicht immer klar ist, woher die Klänge genau kommen. Die Bewegungen der motorisierten Parabolschüsseln lassen die Installation gleichsam belebt erscheinen; Klang und Bewegung treten dadurch in einen Dialog mit dem Raum und den Besucher*innen. Dabei steht auch die demokratische und niederschwellige Auseinandersetzung mit Kunst im Fokus des Interesses von Fragmentin, wird doch die Kirche auch von Menschen besucht, die nicht unbedingt ein Museum betreten würden. Die kulturelle Vermittlung als solche ist ein zentraler Bestandteil der Arbeit.

Auch bei der Montage der Antenne war das Kollektiv auf professionelle Hilfe angewiesen. (Foto: vandy studio)

Eine zusätzliche Form des Austausches initiiert Fragmentin durch ein umfangreiches Begleitprogramm. Sie luden Künstler*innen der Residenz «La Becque» ein, mit dem Raum und der Installation zu interagieren. Bei unserem Besuch am 20. August gaben die drei experimentellen Organist*innen Kali Malone, Stephen O’Malley und Frederikke Hoffmeier ein Konzert, das noch lange nach Abklingen der Musik nachhallte. Besonders faszinierend war das Wahrnehmen der Klangproduktion der drei Kirchenorgeln von Saint-François, die durch die unkonventionelle Spielweise der drei Performenden ermöglicht wurde. Man konnte förmlich den Lufthauch hören, der durch die Pfeifen austrat. Gerade am Ende eines Stückes hatte man den Eindruck, dem Entstehen von Schweigen beizuwohnen. Dieses Zeichnen mit Klang hatte etwas extrem Berührendes. Solche Momente sind auch in der Kunst rar. Durch seine Vielstimmigkeit regt «Paraboles ulx-56834» dazu an, besser hinzuhören. 

Die Installation in der Église Saint-François in Lausanne ist noch bis am 26. September dieses Jahres zu sehen. Die Kirche ist täglich von 8 bis 20 Uhr zugänglich, die Installation ist allerdings nur von 12 bis 17 Uhr (Di bis Fr) sowie am Wochenende von 10 bis 17 Uhr aktiv.
Das Begleitprogramm ist umfangreich.

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