«Beton», die neue Schau im S AM, ist politisch, doch weder einseitig noch belehrend. Sie holt Profis und Laien gleichermassen ab
Elias Baumgarten
22. November 2021
Foto: Tom Bisig
Kaum ein Land, in dem Beton so exzessiv eingesetzt wird wie in der Schweiz. Doch aus Begeisterung wird immer öfter Ablehnung. Welche Rolle soll das Material künftig spielen?
«Beton ist die Muttermilch der Schweizer Architektur», sagt Andreas Ruby, der Direktor des Schweizerischen Architekturmuseums (S AM), und hält kurz inne. «Doch das ändert sich gerade!» Der Baustoff polarisiert, und aktuell ist sein Image ziemlich ramponiert. Gewiss, bei vielen Menschen stand er noch nie besonders hoch im Kurs; in den sozialen Netzwerken kritisieren sie Häuser aus Beton pauschal als kalt und seelenlos. Doch auch die Haltung vieler Architekt*innen zu dem einst heissgeliebten Material ist ambivalent geworden: Einerseits hat Beton besondere ästhetische Qualitäten und eröffnet nach wie vor enorme gestalterische Möglichkeiten, andererseits ist er ökologisch fragwürdig und scheint mit klimaneutralem Bauen nur schwer vereinbar. Das S AM setzt sich nun mit einer Ausstellung samt umfangreichem Begleitprogramm eingehend mit dem Baustoff auseinander.
Foto: Tom Bisig
Foto: Tom Bisig
Baugeschichte im Museum erleben, die Zukunft live miteinander diskutierenDie Schau begeistert zunächst szenografisch. Niklaus Graber und sein Team haben ein Setting gestaltet, das an eine Baustelle erinnert: Schaltafeln gliedern die Museumsräume in Kabinette. Bezeichnenderweise sind sie neu – gebrauchte waren nicht zu beschaffen, denn alle sind im Einsatz. Das gibt eine Idee davon, wie viel hierzulande bei aller Kritik und entgegen allen Vorbehalten noch immer betoniert wird. Doch zurück zur Schau: Die Kabinette sind klein und dunkel, es fällt leicht, sich darin ganz auf das Thema und die Exponate zu fokussieren. Behandelt werden neun unterschiedliche Themenkomplexe, zum Beispiel die Herkunft des Materials oder seine Eigenschaften. Gezeigt werden Originalpläne, Zeichnungen und Modelle aus den Architektursammlungen der ETH Zürich, der EPF Lausanne und der USI in Mendrisio. Das ist ein Privileg, denn noch nie waren die Stücke zusammen zu sehen. Um das möglich zu machen, investierten die Kurator*innen viel Zeit und Energie: Über drei Jahre wurden 15000 Objekte und Dokumente gesichtet und schliesslich 300 für die Schau ausgewählt.
Die Ausstellung erklärt, was Beton eigentlich ist. Dabei gelingt es, sowohl Laien als auch Expert*innen abzuholen: Gut geschriebene Texte sowie etliche Filme und Modelle erlauben, die Schau ohne Vorwissen zu verstehen und mit den Grundrissen und Schnitten auch ohne architektonische Vorbildung etwas anzufangen. Gleichzeitig dürften die Ausstellungsstücke ein mit der Schweizer Architekturgeschichte genau vertrautes Publikum begeistern. Grossartig gelungen ist es darüber hinaus, Beton als kulturelles Phänomen darzustellen. Anhand von herausragenden Gebäuden, vor allem aber auch anhand von Tunneln, Verkehrsanlagen, Kraftwerken, Staudämmen und Bunkern wird verständlich, dass der Baustoff bei der Gestaltung des Schweizer Territoriums eine entscheidende Rolle spielt und bisweilen eng mit nationalen Narrativen verbunden ist. Beton sei hierzulande Teil des Nation-Building, sagt Andreas Ruby. Dies macht auch begreiflich, warum die Schweizer Bauwirtschaft eine weltweit nahezu einmalige Expertise im Umgang mit dem Material aufgebaut hat.
Hans Hofmann, Wasserkraftwerk Birsfelden, 1953–1954 (Schnitt: gta Archiv / ETH Zürich, Hans Hofmann)
Aurelio Galfetti, Restauration des Castelgrande, Bellinzona, 1981–2000 (Schnitte: Archivio del Moderno, Fondo Aurelio Galfetti)
Mirco Ravanne, Kapuzinerkloster Sion, 1964–1968 (Schnitte: Archives de la construction moderne – EPFL, Fonds Mirco Ravanne)
Doch kann an diese Tradition künftig noch angeknüpft werden? Wo bleibt der Einsatz von Beton sinnvoll, wo ist er mit dem Wissen von heute nicht mehr vertretbar? Und wie weit ist die Industrie bei der Entwicklung von emissionsarmem oder gar -neutralem Beton, den sie uns ja verspricht? Darüber soll parallel zur Ausstellung, die noch bis zum 24. April 2022 zu sehen ist, live diskutiert werden. Das umfangreiche Begleitprogramm besteht aus Führungen, Podien und der Präsentation des Buches «Constructive Futures – Beyond Concrete». Besonders spannend verspricht die Debatte «The Future of Concrete» zu werden, zu der neben den Architektinnen Friederike Kluge (Alma Maki) und Christine Binswanger (Herzog & de Meuron) sowie dem Experten für alternative Baustoffe Dirk Hebel und ETH-Professor Philippe Block auch Edelio Bermejo eingeladen ist, der beim weltgrössten Zementhersteller Holcim die Abteilung für Forschung und Entwicklung leitet. Der Anlass findet am 27. Januar 2022 um 19 Uhr im Theater Basel statt.
Rino Tami, Autobahn Chiasso–Gotthard, Eingang Melide des Autobahntunnels Melide–Grancia, 1963–1970 (Seitenaufriss: Archivio del Moderno, Fondo Rino Tami)
Wertvoller Beitrag und offene FragenViele Menschen wissen über Beton nur oberflächlich Bescheid. Auch welchen Anteil die Bauwirtschaft an der Klimakrise hat und wieso, ist weiten Teilen der Bevölkerung nicht näher bekannt. In der politischen Debatte geht das Thema zwischen den Streitereien über das Heizen mit Öl, das Autofahren, Flugreisen und vegetarische Ernährung oft vergessen. Darum sind die Ausstellung und ihr Begleitprogramm sehr wichtig. «Beton» bricht das Thema allgemein verständlich herunter. Wertvoll ist auch, dass die Schau dem Publikum keine Schlussfolgerungen vorgibt und die Besucher*innen nicht mit erhobenem Zeigefinger belehrt; nüchtern und präzise wird erklärt, ohne in Hysterie zu verfallen oder unerfüllbare Maximalforderungen zu stellen, wie es sonst aktuell leider oft geschieht.
Spannend wird nun das Begleitprogramm, denn viel gibt es zu diskutieren. Kann zum Beispiel das parametrische Entwerfen helfen, den Materialaufwand bei Betonkonstruktionen, die heute in der Regel überdimensioniert werden, entscheidend zu senken? An welchen Lösungen arbeiten Schweizer Forscher*innen? Wie sinnvoll ist Recyclingbeton? Und vielleicht am wichtigsten: Was soll mit den vielen Bestandsbauten in Beton überall in der Schweiz werden? Wie lassen sie sich für neue Nutzungen anpassen? Welcher Pflege bedürfen sie, wollen wir ihre Lebensspanne möglichst lange ausdehnen?
Concrete in Switzerland. Histories from the Recent Past
Salvatore Aprea, Nicola Navone, Laurent Stalder und Sarah Nichols
210 x 270 Millimeter
288 Seiten
ISBN 9782889153534
EPFL Press