Baldwin Guggisberg – Wanderer zwischen den Welten
Suzanne Schwarz
15. Januar 2024
Monica Guggisberg und Philip Baldwin planen ihre Arbeit «The Long Voyage: Memories, Tears, Joy». Bei der Finissage ihrer Ausstellung im Vitromusée Romont werden sie vor Ort sein. (Foto: Christoph Lehmann)
Die Bernerin Monica Guggisberg und der New Yorker Philip Baldwin zählen zu den besten modernen Glaskünstlern. Aus ihren Objekten spricht ein hoher intellektueller und ästhetischer Anspruch. Ihre grosse Ausstellung im Vitromusée Romont, dem Schweizerischen Museum für Glasmalerei und Glaskunst, ist noch bis zum 21. Januar zu sehen.
Venedig war und ist eine konstante Grösse in der Glasmacherkunst und seine Insel Murano nach wie vor ein Anziehungspunkt für Künstler verschiedener Disziplinen, die sich an dieser Kunstform versuchen. Zu denjenigen, die sich in den Werkstätten von Murano profiliert haben, gehören Philip Baldwin und Monica Guggisberg. Diese Inspiration nutzten sie, um die venezianische Kaltbearbeitungstechnik (Battuto) zu erweitern und eine neue Sprache zu entwickeln. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde diese Technik vorwiegend für die Oberflächenbearbeitung bei der Firma Venini angewendet. Durch die Verbindung ihrer neu entwickelten Schliffe (mit der Hilfe von Paolo Ferro) und der schwedischen Überfangmethode gelang es ihnen, eine völlig neue Art der Glasbearbeitung zu entwickeln, ein Verfahren, das zu ihrem ureigensten Stil geworden ist.
Die Geschichte mit Venedig begann 1994 durch die Zusammenarbeit mit dem venezianischen Glasmachermeister Lino Tagliapietra (*1934). Sie erwies sich als wichtiger Wendepunkt, denn wie Baldwin und Guggisberg ist auch er ein Wanderer, ein Nomade, aber auch ein sehr einflussreicher Pädagoge. Schon damals, mit mehr als vierzig Jahren Erfahrung in der Glasherstellung und im Unterrichten, war er für eine weltweite Renaissance der italienischen Glastechniken verantwortlich.
Baldwin Guggisbergs nachfolgende Arbeiten stellten daher eine Kombination der Incalmo-Technik und der Battuto-Schliffe dar. Ein grosser Sprung in eine neue Ära, der in eine langjährige Zusammenarbeit mit Venini mündete, die seit 1995 ungebrochen andauert. Das Traditionsunternehmen Venini begann damals eine Kooperation mit dem Leuchtenhersteller Flos und schaffte mit den Abaco-Leuchten aus Glas den erfolgreichen Sprung in den aufkommenden Designsektor. Skandinavien und Venedig verschmolzen in der Marke Venini ebenso wie in Baldwin Guggisbergs persönlicher Entwicklung und Geschichte. Tagliapietra erklärte: «In ihrer Arbeit konnte ich einige klare Einflüsse erkennen: zum einen Carlo Scarpa, der in den 1930er-Jahren als erster die venezianischen ‹kalten› Techniken des Battuto, Inciso und Schleifens beherrschte, [...] und andererseits Tapio Wirkkala (1915–1985), der mit seinen Techniken des Incalmo (mehrere Elemente gleichen Durchmessers, aber unterschiedlicher Farbe in heissem Zustand zusammenfügen) und des Heissfiligranen einige der schönsten Werke der 1960er- und 1970er-Jahre schuf.»
Das Studio der beiden Glaskünstler befindet sich seit 2015 in den grünen Hügeln von Hares Green in Wales. 20 Jahre lang hatten sie eine Werkstatt im waadtländischen Nonfoux. (Foto: BG)
Blick ins Studio: Im Hintergrund ist der Schmelzofen zu sehen. (Foto: Marco Kesseler)
Werkzeuge für die Arbeit im «Hotshop»: Messezirkel, «Jacks», Scheren, Soffietto (Foto: Alex Ramsay)
Prozesse und EntwicklungenBaldwin Guggisberg experimentieren unermüdlich, wie an den neueren Exponaten der grossen Ausstellung in Romont deutlich zu sehen ist. Man begegnet einer grossen Anzahl Arbeiten in unterschiedlichen Kaltverformungstechniken, bei denen wellenförmige Muster das Volumen abgrenzen und Licht ins Innere eindringen lassen. Alle Objekte – mundgeblasen, geschnitten und geschliffen mit ursprünglich transparenter matter Oberfläche – erhalten einen bisher nie gesehenen Lichteinfall und Materialeffekt.
Von besonderem Interesse für die beiden Künstler sind Installationen mit Rahmen, deren konzeptionelle Bedeutung darin besteht, dass sie wie architektonische Eingriffe oder Einfriedungen eines Raumes, ja manchmal sogar wie «Schwellen» erscheinen. Zu sehen an einer Ausdrucksart, die sie seit Jahren begleitet: dem Boot.
Blick in die Ausstellung im Vitromusée Romont (Foto: Christoph Lehmann)
Die Werke «Monoliti humani» (2021), «The Magic of Seven» (2021) und «Scylla» (2022) (Foto: Christoph Lehmann)
«Veronese Deconstructed» (2017) und «Monoliti humani» (2021) (Foto: Christoph Lehmann)
Das Boot «The Long Voyage: Memories, Tears, Joy»Grosse Amphoren aus Glas in einem Schiff bestimmen die Silhouette eines frühen Kunstwerks, das rasch die internationale Aufmerksamkeit der Museen erregte. Sie sind transparent, einige von ihnen sind blau oder blauviolett, leicht gelb oder violett gefärbt. Sie sind im Laderaum des Schiffes platziert, zusammen mit kleinen Amphoren aus dickerem Glas, das mehrfarbig und opak ist, die Oberflächen mit Battuto- und Incisotechnik gestaltet oder satiniert. Aus formaler Sicht reflektieren sie das Licht, gliedern den Raum und verleihen dem Schiff ein stabiles Aussehen. Die geometrische Form einiger dieser Gefässe leitet sich vom Kegel ab, der, wie auch die Kugel, immer wieder in ihren Arbeiten auftaucht. Das Schiff begleitet den Weg des Duos seit den 1990er-Jahren, inspiriert vom traurigen Kapitel der Schweizer Geschichte zwischen 1933 und 1945: Das Boot ist voll. In einem Interview (2021) sagen sie dazu: «Alle unsere Boot-Versionen, sogar das zwanzig Meter lange Boot ‹Boat of Remembrance› mit hängenden Amphoren in der Kathedrale von Canterbury, sind gleich proportioniert: Ikonische Glasformen, Bug und Heck identisch, so bleibt das Vorwärts- oder Rückwärtsgehen mehrdeutig.»
Ein neueres Werk stellt die beeindruckende «Amphore Métaphore» dar, bestehend aus 257 schwarzen Amphoren verschiedener Grössen, an der Wand angeordnet als wären sie die Ladung eines gesunkenen Schiffes, dessen Wände mit der Zeit verschwunden sind. Die ganz neue Serie der «Shards» (Scherben) stellt eine lineare Prozession aus zweidimensionalen Amphoren-Silhouetten dar, die aus im Atelier gesammelten Glassplittern zusammengesetzt sind.
«Amphore Metaphore» (2022) und «The Rational» (2023) (Foto: Christoph Lehmann)
«The Pleiades» (2023) (Foto: Christoph Lehmann)
Aktuell gilt ihr Interesse mehr und mehr dem Kosmos, bezeugt durch die «Plejaden» mit aus Kugeln bestehenden Planeten, die durch die Verflechtung von Metallstäben dynamisiert werden, Metallstäben, die sich wellenförmig bewegen und selbst Schleifen bilden.
Die spektakuläre vertikale Vitrine «Peoples’ Wall» erinnert durch die Vielfalt der Formen und Farben der gestapelten Glasstücke an die Völker der Welt, die enorme Vielfalt der Völker, aus denen sich unsere Gesellschaften zusammensetzen. Sie appelliert an die notwendige Toleranz, die es ermöglicht, dass diese Völker friedlich und ohne Diskriminierung miteinander leben können.
Philip Baldwin (*1947, New York) und Monica Guggisberg (*1955, Bern) lernten sich während ihrer Ausbildung in Schweden kennen und bilden seither ein künstlerisches Duo. Die Vereinigung Wilke Adolfsson und Ann Wolff (ehemals Wärff) vermittelte ihnen die Grundlagen des Handwerks, der Kunst und des Designs der Glasherstellung. Ihre erste Werkstatt stand im waadtländischen Nonfoux, wo sie fast 20 Jahre lang blieben, um 2001 nach Paris und 2015 nach Wales weiterzuziehen.
Mundgeblasene Tischgläser prägten die Anfänge ihrer Karriere. Rasch erhielten sie Aufträge von bedeutenden Unternehmen wie Rosenthal, Steuben und Venini. Die Zusammenarbeit im Bereich Design bildet heute jedoch den kleinsten Teil ihres Gestaltens, ihr Interesse gilt Arbeiten im grösseren Massstab und Installationen. Ihre aussagekräftigen Objekte sind oft politisch inspiriert und nehmen Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen. Ebenso spielen sie mit der fünftausendjährigen Geschichte des Werkstoffes Glas und seiner Verbindung zu Zivilisationen vergangenen Zeiten.
Baldwin Guggisberg wurden mehrfach mit internationalen renommierten Preisen ausgezeichnet. Ihre Objekte sind in den wichtigen Museen und Glas-Sammlungen der Welt vertreten.
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