Alles fließt, auch die Kunst
Das Limmattal ist Schauplatz des Kunstprojekts »Art Flow«. Zwischen Zürich und Baden gibt es rund dreißig Kunstwerke im öffentlichen Raum zu entdecken. Die Arbeiten eröffnen eine neue Sicht auf diese Orte.
Es sei ein wachsendes Kunstprojekt, liest man auf der Website von »Art Flow«. Die Kunstinitiative startete 2023 und ist auch im wörtlichen Sinne fließend. Denn das trifft gleich auf mehrere Aspekte dieser Unternehmung zu. Da ist etwa der Fluss, die Limmat. Die rund dreißig öffentlich zugänglichen Kunstwerke stehen alle im Limmattal zwischen Zürich und Baden – oder kommen noch dorthin zu stehen. Einem Blütenmeer gleich ergießen sie sich nach und nach dem Fluss entlang. Dieses allmähliche Erwachsen über drei Jahre – den Peak bildet das laufende Jahr – entspringt allerdings einer einzigen Grundidee, nämlich Kunst zugänglicher zu machen. Und sich mit Kunst an alle Menschen und nicht nur an eine kleine Bubble zu richten. Weg von den Hotspots des Kunstkonsums also, hin zur Peripherie und ihren weitverzweigten Fluchtlinien.
Vom griechischen Philosophen Heraklit (550 v. Chr.–460 n. Chr.) soll das Diktum »panta rhei« (alles fließt) stammen. Man könne nie zwei Mal in den gleichen Fluss steigen, schrieb er, denn alle Dinge seien im Wandel. Seine Flusslehre passt gut zum Projekt »Art Flow«. Denn gerade Kunst ist ein guter Gradmesser für Wandel und Veränderung, zuweilen ist sie sogar Vorzeichen davon, Avantgarde. Kunst bildet Transformationen ab und kann somit auch die Betrachtenden transformieren; allerdings nicht mit esoterischer Hokuspokus-Schnellwirkung. Doch langsamer Wandel kann durchaus identitätsstiftend sein.
Manchmal kann auch die alltägliche Erfahrung des Staunens, des fragenden Beobachtens und des Innehaltens schon viel bewirken. Etwa die Erkenntnis, dass Kunst allen »gehören« sollte. Partizipation und Teilhabe sind auch deklarierte Ziele der Initiative »Regionale 2025«, die den Lebensraum Limmattal sowie die Herausforderung seines schnellen Wachstums ins Zentrum stellt. 17 Gemeinden der Kantone Zürich und Aargau beteiligen sich an diversen Projekten. In diesem Rahmen findet auch das Kunstprojekt »Art Flow« statt; begleitet wird es durch ein Vermittlungsprogramm, das Prozesse der Sensibilisierung – für Kultur, Natur und das Zusammenleben von Menschen – fördern möchte. Einfach ist das heute im Zeitalter der allgemeinen Radikalisierung nicht, umso wichtiger kann eine Auseinandersetzung mit und die Verbreitung von künstlerischen Inhalten sein. Kunst kann als Antidot gegen Schubladendenken wirken.
Dass Kunst im öffentlichen Raum genau durch ihre kollektive Erfahrbarkeit eine Wirkung auf unseren Alltag haben kann, davon ist auch Christoph Doswald überzeugt, der dieses Projekt kuratiert hat. Die Orte, an denen die Kunstwerke platziert werden, spielen eine bedeutende Rolle, auch für die Künstlerinnen und Künstler, die diese Arbeiten meist eigens für die spezifischen Kontexte geschaffen haben. So findet etwa eine fotografische Langzeitstudie des Künstlers Jules Spinatsch den Weg in ein Shoppingcenter in Spreitenbach. Statt für Produkte werben seine Bilder im »Shoppi Tivoli« nun fürs Limmattal. »Utopian Real Ground Limmattal (URGLT)« heißt die Arbeit.
Während diese Bilder für alle sichtbar aufgestellt sind, muss man andere Werke länger suchen, etwa mehrere »Baumskulpturen« des Künstlers Michel Comte. Er hat in Zusammenarbeit mit dem japanischen Architekten Yuichi Kodai und der Schulklasse R3a Neuenhof mehrere Baumstrünke und Baumstämme in einem Waldstück bei Dietikon mit Kupferfolie ummantelt. Damit verwandelt Comte die abgestorbenen Bäume in skulpturale Objekte. Das Material Kupfer soll zudem auch Parasiten – wie etwa Zecken – fernhalten. Natürlich ruft das schnell mal die Frage auf den Plan, ob man das dürfe, einfach mitten im Wald Kunst machen. Doch genau diese Haltung zeigt, dass die Natur häufig als Gegenspielerin der Kultur verstanden wird. In Wahrheit lebt der Mensch seit Jahrtausenden in einem Natur-Kultur-Kontinuum. Die künstliche Trennung zwischen Mensch und Natur hat erwiesenermaßen wenig Gutes bewirkt. Und so können diese »natürlichen« Kupferskulpturen nur als Hinweis für eine Verbindung von fälschlich Getrenntem gelesen werden. Mit dem doppeldeutigen Titel »Clearings« (Lichtung oder Klärung) indiziert der Künstler, dass das Leben des Waldes und dasjenige des Menschen miteinander verbunden sind. Die Installationen, die sich im Wandel der Jahreszeiten unterschiedlich präsentieren, werden auch zum Sinnbild für stetige Erneuerung zellulärer und gedanklicher Strukturen. Die Lichtungen werden auch im übertragenen Sinne zu Freiräumen.
Noch weiter auseinander als die Baumkunstwerke liegen die Bronze-Sterne von Lou Masduraud, die ab Mitte April im Umfeld von Ortsmuseen zwischen Zürich und Baden in kleinen Gruppen auf dem Boden installiert werden. Die Arbeit »Milky Way« zeichnet gleichsam eine alternative Topografie der Landschaft des Limmattals. Die Künstlerin interessiert sich für den Aspekt der Dissemination von Kunst und findet mit dem Bild des Sterns ein poetisches und allgemein verständliches Symbol für unser planetares Dasein. Zugleich zeigt diese Arbeit sehr schön, wie subtil sich Kunst in den öffentlichen Raum einfügen kann. Die Sterne wachsen wie Pilze aus dem Boden und schaffen ein horizontal verzweigtes Netzwerk zwischen den unterschiedlichen Standorten.
Physische Freiräume müssen im Zuge der Kapitalisierung des öffentlichen Raums gerade im städtischen Kontext immer neu erkämpft werden. Einen humorvollen, doch nicht minder scharfsinnigen Umgang mit den Themen Natur und Gesellschaft erlaubt die Arbeit »Trilobiten« von Pedro Wirz. Mitten in der etwas »töteligen« Kommerzmeile Europaallee scheinen zwei bronzene Spiegeleier auf Findlingen zu braten. Das tun sie natürlich nicht. Vielleicht sind sie ein leiser Hinweis auf die massive Hitze, die sich im städtischen Raum im Sommer entwickeln kann. Da geben die paar Ginkgo-Bäume, die man in der Umgebung gepflanzt hat, leider zu wenig Gegensteuer. Der Asphaltboden ist das Problem. Dafür gibt’s dann Spiegeleier. Die Reaktionen der Passantinnen und Passanten anlässlich der Eröffnung deuten darauf hin, dass schon nur etwas Farbe inmitten der grauschattierten Gegend Auge und Geist erfreuen kann.
Eier sind ein allgemein verständliches Symbol für das Leben. Die »Trilobiten« hingegen sind schon lange ausgestorben, denn sie lebten in der fernen Zeit des Paläozoikums, an dessen Ende das größte Massenaussterben der Erdgeschichte stattfand. Rund 50 Millionen Jahre später folgte noch ein weiteres, mittlerweile erleben wir im Anthropozän das sechste Artensterben. Unter der Oberfläche des vermeintlich lustigen Kunstwerks tun sich Abgründe auf. All das erzählen die »Trilobiten« auch, doch diese Geschichten entfalten ihre Wirkung langsam sprudelnd, genau wie das Projekt »Art Flow« als Ganzes.