Küchendebatte

Jenny Keller
20. September 2012
Dieser Artikel erschien unter dem Titel Funktionaler Wandel in der Immobilienbeilage der NZZ am Sonntag vom 2. September 2012.

In der Küche brodeln die Gerüchte, manchmal wird Geschirr zerschlagen, und man weint hier nicht nur über verschüttetes Wasser: Wer die mit einem Golden Globe ausgezeichnete britische TV-Serie «Downton Abbey» schaut, die von einer aristokratischen Familie und ihren Angestellten in den Jahren um den ersten Weltkrieg handelt, weiss das zu bestätigen. Die Küche ist der Herd und das Herz des Anwesens Downton Abbey, des Familiensitzes um Lord und Lady Grantham.
Mrs Patmore, die Köchin, hat nicht nur alle Hände voll zu tun, die aufwendigen Mehrgänger für die Familie vorzubereiten, ihre Küche ist auch immer wieder Schauplatz zahlreicher dramatischer und alltäglicher Probleme der Bediensteten.

Daisy kocht in der grossen Küche von Downton Abbey. Bild: Carnival Film & Television Limited 2011 for Masterpiece

Die Küche ist die Bühne des Lebens - noch heute. Nicht nur bei Partys in der Wohnung, wo der Kern der Festgesellschaft am Ende des Abends mit Sicherheit in der Küche steht - sei es, um zu rauchen oder um den letzten Getränkevorrat zu teilen. In der Küche finden soziale, kulturelle und politische Debatten statt. Und an der Entwicklung dieses Raumes lassen sich auch politische und soziale Veränderungen unserer Gesellschaft nachzeichnen.

Gesellschaftliche Umwälzungen
Die eingangs erwähnte Serie spielt in einer Zeit, in der Europa im Umbruch begriffen ist, der Adelsstand wird von demokratischen und sozialistischen Bewegungen ins Wanken gebracht. Auch wenn im Vereinigten Königreich noch heute Adelstitel verliehen werden, hat der Adel auf der Insel, aber auch im restlichen Europa, seine Bedeutung nach dem Ersten Weltkrieg grösstenteils verloren.

Das schlägt sich auch auf die Art zu leben und somit auf die Architektur nieder. Köchinnen und Angestellte gehören heute nicht mehr zum Hausstand einer durchschnittlichen Familie. Die Hausfrau war und ist oft heute noch für den Haushalt und die kulinarische Versorgung der Familie zuständig.

Die Enge der Arbeiterwohnungen war den Architekten der Moderne ein Dorn im Auge. Bild: Fotoarchiv der sozialen Demokratie, Bonn

Die Moderne mit ihrem Bekenntnis zu Wirtschaft und Industrie schuf nicht nur eine Arbeiterklasse, sondern auch Mietskasernen. Wohnraum für die Arbeiter, den sie sich leisten konnten. Wo auch die Frau in der Fabrik mit anpacken musste, konnte nicht zu viel Zeit am Herd verbracht werden. Grete Schütte-Lihotzky, die erste Architektin in Wien, entwickelte die Frankfurter Küche, den Prototyp der modernen Einbauküche. Sie selbst behauptete notabene, nicht kochen zu können, und liess sich durch platzsparende Lösungen auf Schiffen und in Zügen inspirieren. Ergonomische und hygienische Gesichtspunkte bestimmten Form, Höhe und Gestalt ihrer Einbauten. Bis in die achtziger Jahre war die Küche in unseren Mietwohnungen ein schmaler Schlauch, was auf Schütte-Lihotzkys Überlegung basiert, dass kürzere Wege das Arbeiten in der Küche erleichtern.

Die Bibel der modernen Schweizer Hausfrau, das Fülscher Kochbuch in der Ausgabe um 1960. Bild: wiedler.ch

Im Zuge der Standardisierung im Bauwesen und der Vorfabrikation von Häusern - in den USA ist Frank Lloyd Wright mit den «American system-built houses» zu nennen - wollte man auch die Küche standardisieren, was sich jedoch erst Ende der zwanziger Jahre durchgesetzt hat. Danach brachte die flächendeckende Elektrifizierung dem entstehenden Mittelstand den Elektroherd, den Kühlschrank und weitere Erfindungen für die Küche.

Die Nachkriegsjahre boomten, und in Amerika galt die moderne Küche als Sinnbild des fortschrittlichen Kapitalismus. Als Nixon, damals Vizepräsident der USA, an der amerikanischen Ausstellung in Moskau 1959 Nikita Chruschtschew eine moderne amerikanische Küche, damals Traum jeder westlichen Hausfrau, zeigte, soll der Parteichef der KPdSU ausgerufen haben: «Besteht euer Leben nur aus Küchen?» Das Treffen der beiden Staatsmänner ging danach als «Küchendebatte» in die Geschichtsbücher ein.

Die Küchendebatte, ein verbales Kräftemessen zwischen Chrustschew und Nixon während des Kalten Kriegs. Bild: balkanforum.info

Die moderne Küchendebatte
Heute debattiert man, ob Frau oder Mann im Haushalt das Sagen hat, darüber, wer den Platz in der Küche einnimmt. In den siebziger Jahren wurden die Küchenmodule bezeichnenderweise beweglich, wie auch die Vorstellung der bürgerlichen Familie in Bewegung geriet. Und seit auch Männer den Kochlöffel schwingen, kann es vorkommen, dass sie ähnlich viel Geld in die Hightech-Küche investieren wie in den Sportwagen vor dem Haus.

Eine weitere Entwicklung prägt auch die Küche: Der Wohnflächenbedarf ist in den letzten Jahrzehnten laufend gestiegen. 1980 beanspruchte eine Person in der Schweiz rund 34 m² Wohnfläche, und heute dürfte der Wert gemäss dem Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) schon bei fast 50 m² liegen. Gleichzeitig wurden auch die Küchen grösser. Keine Genossenschaft, deren Wohnungen heute nicht einen offenen Koch- und Essbereich haben.

Doch haben wir das nicht bald satt? Wo sollen wir die Zigarette an der Party rauchen? Unter dem Dunstabzug? Doppelverdiener ohne Kinder, die häufiger Sushi nach Hause bestellen, als selbst zu kochen, benötigen keine Kochinsel mit Induktions-Wok in einer Küche, so gross wie die von
Mrs Patmore - die dort aber meistens für acht Personen (die Angestellten ausgenommen) gekocht hat.

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