Designing Japan
Susanna Koeberle
21. Mai 2020
Der Verleger Lars Müller ist ein Japanliebhaber. (Foto: Design Preis Schweiz)
Der Verleger Lars Müller hat schon mehrere Bücher mit Kenya Hara gemacht. Die Serie ist das erfolgreichste Programm des Verlags. Wir sprachen mit ihm über seinen Bezug zur japanischen Kultur und die Arbeit von Kenya Hara.
Susanna Koeberle: Was ist die Geschichte hinter der Publikation «Designing Japan»?
Lars Müller: Das ist bereits die sechste Publikation, die ich mit Kenya Hara mache. Darin sind zwar nicht notwendigerweise neue Erkenntnisse enthalten, aber es ist die Schrift von Hara, die am weitesten hinaus ruft und dadurch auch ein grosses Publikum anspricht. Mit der ersten Publikation «Designing Design» habe ich wahrscheinlich wesentlich dazu beigetragen, dass Kenya Haras Arbeit als Gestalter und Denker auch ausserhalb Japans wahrgenommen wurde. Es ist auch eine Freundschaft entstanden zwischen uns. Mein Zugang zu Japan ist ganz stark von Kenya Hara geprägt.
Wie würden Sie seinen Designbegriff beschreiben?
Wenn Hara Design sagt, meint er weder Graphic Design noch Produktdesign, sondern die Tatsache von Gestalten an sich. Alles, was aus dem Nichts gestaltet wird, ist Design.
Was interessiert Sie an Kenya Haras Arbeit?
Was uns verbindet, ist eine grosse Schnittmenge an Einsichten, die wir als Gestalter haben, trotz unserer unterschiedlichen Herkunft. Wir haben uns stets gegenseitig nach Japan und in die Schweiz eingeladen. Dabei haben wir bemerkt, dass unsere Gestaltungskulturen sich in der Ästhetik gleichen – etwa in der radikalen Reduktion auf die Essenz einer Sache. Allerdings – und das ist ganz wichtig festzuhalten – sind die Gründe dafür ganz verschieden. Schon nur historisch gesehen.
Können Sie diese Unterschiede erläutern?
Ich habe einmal für eine Ausstellung zwei Schalen nebeneinander gestellt: Eine Schale von Rosenthal aus den 1940er-Jahren und ein 300 Jahre altes japanisches Gefäss. Die beiden Stücke sahen sich sehr ähnlich. Die japanische Schale hat ihre harmonische Form gefunden aus dem jahrhundertealten Streben nach maximaler Reduktion, nach Einfachheit und Leere, die im Kontrast zur Komplexität der Natur steht. Bei uns ist der Hang zur Reduktion circa hundert Jahre alt und entspringt einem rationalen Konzept, das mit der Industrialisierung und der Ökonomisierung der Prozesse zusammenhängt. Die japanische Tradition hingegen ist spirituell und herzgetrieben. Sie reflektiert ein Bescheidenheitsmodell: Wie gut es der Mensch auch machen kann, er kann es mit der Natur nicht aufnehmen. Dass sich die beiden Gestaltungskulturen so gut verstehen, gründet so gesehen auf einem Missverständnis.
«Jishoji» (bekannt als «Silver Pavilion») in Kyoto – hierhin zog sich der Shogun Ashikaga Yoshimasa zurück. (Foto: Yoshihiko Ueda)
Im Vorwort zur englischen Ausgabe von «Designing Japan» sagt Hara: «The essence of culture is locality itself, there is no global culture». Da schwingt auch eine Spur Nationalstolz und Konservatismus mit. Wie sehen Sie das?
Diese Haltung hat sehr stark mit dem Inselverständnis Japans zu tun. Und dieses Verständnis hat dazu geführt, dass sich die Japaner Sachen immer geholt haben – etwa in China. Das war in diesem Sinne nicht global. Kenya Hara beansprucht ja nicht für sich, die ganze Kultur sei in Japan entstanden. Ich glaube, die Aussage ist berechtigt, dass Kultur grundsätzlich geographisch definiert ist. Der globale Austausch passiert heute automatisch. Daraus zu schliessen, es gäbe globale Kultur, wäre zu schön, um wahr zu sein. Das könnte allenfalls ein utopisches Ziel sein. Kultur wie etwa Handwerk ist immer analog. Man muss hingehen und den Prozessen beiwohnen können. Es geht ums Authentische. Für Hara ist das der Ursprung, darauf basieren seine Überlegungen.
Kann kultureller Austausch stattfinden? Hara möchte ja auch, dass wir von Japan lernen.
Ja, ich bin ja auch Teil dieses kulturellen Austausches, Teil der Mission. Da muss ich jetzt ausholen: Haben wir nicht alle in den letzten Wochen gemerkt, dass es auch mit weniger geht? Und es geht mir sogar gut dabei. Die Botschaft von Hara ist «Consciousness», damit hängt auch die Idee der Leere zusammen. Doch es geht nicht um Bescheidenheit, denn diese Leere ist eine hoch komplexe Angelegenheit. Sie ist das Resultat einer Erkenntnis. Kenya Hara liebt es, diese Erkenntnis mit anderen Leuten zu teilen. Die Japaner sind uns da etwas voraus. Natürlich können wir diese Ideen auch auf unsere lokale Kultur adaptieren, wir kennen ja diese Prinzipien auch. Das könnte sogar Teil einer globalen Strategie werden.
In Japan leben ja nicht alle Leute nach diesen Prinzipien.
Bei weitem nicht, Shopping und Konsum gehören zum japanischen Lifestyle. Japan ist ja zur viertgrössten Volkswirtschaft der Welt gewachsen.
Dennoch fällt auf, wie Menschen in Japan sorgfältiger mit Gegenständen umgehen. Es scheint ein gewisser Respekt vor Gemachtem da zu sein. Womit könnte dies zusammenhängen?
Wenn man schon nur die japanische Schrift anschaut, wird einem einiges klar. Sie ist ja unheimlich komplex. Jede Japanerin, jeder Japaner beherrscht diese Zeichen, sie lernen das als Kinder, das hat auch viel mit Disziplin zu tun. Durch dieses frühe feinmotorische Training entsteht eine haptische und visuelle Sensibilität, die wir uns bestenfalls im Erwachsenenalter aneignen. Das ist schon beneidenswert, wenngleich die japanische Kultur auch ihre Schattenseiten hat.
«Designing Design» war die erste Publikation von Lars Müller mit Kenya Hara. (Buchcover © Lars Müller Publishers)
Spielt da auch diese spirituelle Dimension eine Rolle, die Sie vorhin erwähnten?
Klar. Das sieht man etwa sehr schön am Buch «White», das ich mit Hara gemacht habe. Weiss heisst auf Japanisch «Shiro». Das Zeichen dafür bedeutet auch Leere. Und diese Leere steht auch für Stille. Darauf gründet ja auch die Ästhetik von Muji, wo Hara Art Director ist. Das Konzept für die Werbung von Muji ist zum Beispiel, dass nie ein Produkt gezeigt wird. Die Menschen, die Konsumenten sind es, die das Produkt mit Inhalt füllen. Dieses Konzept ist nicht kopierbar. Es geht eben nicht nur um Einfachheit.
Hara ist auch Initiator des Konzepts «high resolution tour». Was ist das genau?
Die Pflege der eigenen Kultur hat in Japan Tradition, die Leute reisen viel im eigenen Land. Tourismus spielt in Japan eine andere Rolle als bei uns. Dazu gehört etwa die Badekultur der Onsen, das ist dort Teil der Volkskultur. Die Städte sind extrem dicht besiedelt, 80 Prozent der Bevölkerung lebt in urbanen Gebieten. Die anderen 20 Prozent, die auf dem Land leben, sind für die touristischen Infrastrukturen zuständig, für die kulturellen Heiligtümer Japans quasi, wie etwa Handwerk, Ikebana oder Sake brauen. Es gibt Unternehmen, die solche Reisen organisieren und Pauschalangebote anbieten. Die Leute reisen in Bussen an, kommen in grossen Gruppen in den Ikebana-Showroom und es wird ihnen etwas vorgeführt. Das ist Kenya Hara ein Dorn im Auge, denn das sei, sagt er, der Killer für jede Kultur.
Wie sieht sein Alternativkonzept aus?
Die oben geschilderte Form des Tourismus nennt Hara «low resolution tourism». Am Beispiel Ikebana sähe demgegenüber «high resolution tourism» so aus: Man geht in kleinen Gruppen hin und es wird keine Show gemacht, sondern man schaut Handwerkern bei der Arbeit zu, die sie auch sonst machen würden. Die Betriebe müssen einfach ihre Tagesplanung so organisieren, dass Besucher dann etwas Interessantes zu sehen bekommen. Die Gefahr des «low resolution tourism» besteht laut Hara darin, dass sich das ganze Angebot verschlechtert, also auch das Essen oder die Bewirtung. Dem möchte er mit seinem Konzept entgegenwirken. Er entdeckt auch besondere Orte in Japan, die solche Werte pflegen und berät die Leute. Diese Gaststätten sind aber schon ziemlich abgehoben und nur für eine Elite bezahlbar. Doch letztlich kann dieses Konzept dazu beitragen, die japanische Industrie zu retten.
Tourismus und kulturelle DNA (Buchseite © Lars Müller Publishers)
Bei Hara gibt es nicht nur diese Idee des Authentischen und Ursprünglichen, er ist ja auch stark in technologische Materialforschung involviert.
Ja, er hat sich diesbezüglich einen Namen gemacht und gilt in Japan als Star. Er hat schon früh Ausstellungen zum Thema neue Materialien gemacht, die übrigens auch in Mailand zu sehen waren. Etwa «Haptic», «Senseware» oder «Tokyo Fiber». Hinter der Entwicklung dieser Materialien steckt auch die Industrie, die mit den besten Designern wie Hara zusammenarbeitet. Aber auch kleine Manufakturen, die im Hinterhof tüfteln sind da beteiligt. Hara entdeckt diese und daraus entwickelt sich etwas.
Begegnen sich diese beiden Welten (Ursprüngliches und Technologisches) auch?
Wenn Kenya Hara involviert ist, auf jeden Fall! Es gibt zum Beispiel die Firma Takeo Paper, mit der Hara auch zusammenarbeitet. Sie ist in der Papierproduktion extrem innovativ. Hara hat auch verschiedene Gesamtkonzepte für Ryokans entwickelt, wo sich Moderne und Tradition begegnen.
Wie wird das Bewusstsein für japanische Gestaltungskultur gefördert in Japan?
Kenya Hara ist zurzeit auch Direktor des «Japan Design Committee». Da sind auch der Designer Naoto Fukasawa und der Kurator Taku Satoh involviert, bekannte Persönlichkeiten in der Designwelt, die ich beide auch kenne. Der Showroom dieser Vereinigung befindet sich im vierten Stock des Warenhauses «Matsuya» in Tokio. Dort gibt es auch regelmässig Ausstellungen; oder im Designmuseum «21_21 Design Sight». Diese Ausstellungen sind auch didaktisch sehr hochwertig.
«Fukitorimushi», ein robotischer Staubwischer von Panasonic aus NANOFRONT. (Foto © Voile )
Wäre so etwas in der Schweiz nicht auch machbar?
Das ist schwierig, auch weil wir hierzulande keine «Stars» haben. Das ist auch kulturell bedingt. Wir haben ein anderes Verhältnis dazu, das finde ich ok. Japaner neigen dazu, Leute übermässig zu bewundern. Andererseits wird der Nachwuchs stark gefördert. Der grösste Stolz ist es, wenn der Schüler besser wird als der Meister. Schliesslich ist er wegen ihm so gut geworden. Das kennen wir hier nicht.
Und wie sieht es in der Schweiz mit Materialien und Materialforschung aus? Sehen Sie da nicht auch Potenzial?
Die Industrie, die diese Werkstoffe entwickelt, orientiert sich an den Bedürfnissen der Firmen, die sie beliefern. Vielfach sind diese Industrien «disconnected» von der Welt des Designs. Das ist auch in Bereichen wie Zug- oder Flugzeugindustrie der Fall. Designer könnten sich da meiner Meinung nach vermehrt einbringen, unabhängig von einem Auftrag. Wir müssen uns das als Gesellschaft leisten. Es gibt im Design keine Grundlagenforschung, nur angewandte Forschung, das ist schade.
Kengo Kuma, «Con/Fiber», Beton mit eingebetteten faseroptischen Kabeln, Material: ESKA (Foto © Voile)
Im Buch berichtet Hara auch von seinem Projekt «House Vision», das er nach der Tsunami-Katastrophe ins Leben gerufen hat. Können Sie das erläutern?
Da zeigt sich wieder Haras Verdienst als Vermittler und Kommunikator. Damals hat es ja rund 180'000 Häuser weggeschwemmt. Im Rahmen des Projekts erkannte man, dass die typisch japanische Bauweise nicht sehr nachhaltig ist. Die Häuser haben in den Städten meist drei Stockwerke, egal, wie gross die Grundfläche ist. Viele ältere Menschen kommen irgendwann die Treppen nicht mehr hoch. Die städtebauliche Vernunft würde ja sagen, dass man Häuser zusammenlegt und die Wohneinheiten horizontal baut. Dieses horizontale Modell war der Ausgangspunkt für das Konzept von «House Vision». Hara brachte jeweils einen Architekten mit einer Industrie zusammen und sie kreierten gemeinsam Musterhäuser. Sou Fujimoto etwa spannte mit Honda zusammen und es entstand ein Hausroboter. Oder Kengo Kuma entwickelte mit Panasonic etwas.
Auf einem Parkplatz in Tokio waren diese Häuser acht Wochen lang ausgestellt. Das gleiche hat er dann in Peking und Shanghai gemacht. Dieses Konzept könnte man durchaus auch für Europa adaptieren. Es geht darum, sich auf einem höheren Niveau einig zu sein. Wie das auch in der Klimawandel-Debatte der Fall sein müsste. Es müsste sich die Erkenntnis einstellen, dass wir ein gemeinsames Problem haben. Das könnte eine globale Problemlösungskultur bewirken. Dadurch bringt bringt auch einen Diskurs in Gang. Seine Vision lautet eben wie im Untertitel des Buches: «A Future Built on Aesthetics». Das bedeutet, dass alles, was unsere Kultur prägt, eine bestimmte sichtbare Gestalt hat. Das ist unsere Ästhetik. Es geht um mehr als nur Schönheit.
Designing Japan, A Future Built on Aesthetics
Kenya Hara
130 × 187 Millimeter
208 Seiten
45 Illustrationen
Hardcover
ISBN 9783037786116
Lars Müller Publishers
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