Der «Ocean Space» in Venedig

Susanna Koeberle
24. September 2020
Der «Ocean Space» befindet sich seit letztem Mai in der Chiesa di San Lorenzo. (Foto: Marco Cappelletti)

Die ehemalige Kirche von San Lorenzo in Venedig beherbergt seit Mai letzten Jahres den «Ocean Space». Das Programm dieses interdisziplinären Forums wird von der TBA21-Academy kuratiert, einer von Francesca Thyssen-Bornemisza geschaffenen Institution und Zweig ihrer 2002 gegründeten Kunststiftung Thyssen-Bornemisza Art Contemporary. Mithilfe von künstlerischen und wissenschaftlichen Projekten möchte die TBA21-Academy auf die akute Bedrohung der Meere aufmerksam machen. Die schweizerisch-österreichische Kunstvermittlerin, Sammlerin und Mäzenin versteht Kunst als Werkzeug der Veränderung. Sie möchten den Raum als Laboratorium nutzen, das nicht nur einem Biennale-Publikum, sondern auch für die venezianische Bevölkerung ­– Venedig ist von den Folgen des Klimawandels besonders stark betroffen – zugänglich sein soll. 

Anschaulich vorgeführt hat dieses Vorhaben letztes Jahr die eindrückliche Installation von Joan Jonas. Die amerikanische Künstlerin verwendete die Gerüste der Renovierungsarbeiten, um Bilder von Fischen aufzuhängen; in einem zweiten Teil des Raumes gab es inselartige Kojen und Installationen mit Videos von ihr zu sehen. Gerade durch ihren provisorischen Charakter hatte die Installation etwas sehr Berührendes. Dieses Jahr präsentiert sich der sakrale Bau, der eine bewegte Geschichte hat, frisch restauriert. Francesca Thyssen-Bornemisza finanzierte diese Arbeiten und bekam im Gegenzug den Raum für Ausstellungsprojekte zugesprochen. 

Die dreissig Paneele haben fast etwas von einer Kunstinstallation. «Territorial Agency: Oceans in Transformation» wurde durch die TBA21-Academy in Auftrag gegeben und von der Luma Foundation coproduziert. (Foto: Enrico Fiorese)

Die zweite Saison des «Ocean Space», die Ende August trotz abgesagter Architekturbiennale eröffnet wurde, vereint verschiedene Arbeiten. Zum einen diejenigen von neun Fellows der Akademie, die während des Lockdowns zum Teil in den Räumen selber arbeiten und auch vom digitalen Austausch mit Spezialist*innen profitieren konnten. Zum anderen die Präsentation einer aufwendigen Recherche von John Palmesino and Ann-Sofi Rönnskog. Die beiden Urbanisten und Architekten sind Gründer von Territorial Agency. Die Ausstellung unternimmt den Versuch einer Sichtbarmachung der verzweigten Zusammenhänge, die zu den massiven Veränderungen der Meere sowie der an sie angrenzenden Territorien geführt haben. Dazu gehören das Steigen des Meeresspiegels, die Transformation von Küsten, die Urbanisierung, das Algenwachstum oder die Überfischung, um nur einige der Auswirkungen zu nennen, die im Zusammenhang mit dem Klimawandel stehen. Das ist insofern wichtig, als Ozeane bedeutsam für den Zustand unseres Planeten sind. Trotz ihres Ausmasses bilden die Weltmeere zugleich eine Art blinder Fleck: Die enorme Wasserfläche ist für uns eine grosse Unbekannte. Beim Projekt ging es deswegen auch um die Frage, wie man scheinbar abstrakte und disparate Fakten verständlich und sinnlich erfahrbar machen kann. Mit der Ausstellung will die Territorial Agency diese fragmentierte Wahrnehmung in einem kollaborativen und digital zugänglichen Raum zusammenführen. Ultimatives Ziel der TBA21-Academy ist der Schutz der Ozeane. 

Francesca Thyssen-Bornemisza übernahm die Finanzierung der Renovierungsarbeiten der ehemaligen Kirche. (Foto: Enrico Fiorese)

Auf dreissig Paneelen, die im vorderen Teil der Kirche aufgestellt sind, erscheinen die über drei Jahre gesammelten Daten sieben geographischer Zonen, welche die Auswirkungen menschlicher Zivilisation und Aktivität auf die Ozeane visualisieren. Noch nie hatten wir so viele Informationen über das Meer wie heute. Die Zusammenstellung dieser Daten, die mittels Satelliten oder im Wasser platzierter Sensoren gesammelt wurden, formen ein neues Bild der Ozeane und damit zugleich ein Narrativ für das Anthropozän. Eine Soundinstallation, die verschiedene Aufnahmen sampelt, verleiht dem Ganzen eine zusätzliche Dimension. Der Raum mit den Paneelen hat fast etwas von einer Kunstinstallation. Der Gefahr einer rein ästhetischen Zurschaustellung – und damit einer Verharmlosung – begegnet die Kuratorin Daniela Zyman mit einem zweiten Teil in der hinteren Partie des Baus. Auf sechs Tischen werden sechs Aspekte der komplexen Problematik aufgezeigt. Die Dichte an Informationen ist enorm und kaum in einem kurzen Besuch zu bewältigen. Ein Katalog gibt Gelegenheit, diese Zusammenhänge zu vertiefen. Letztlich geht es aber nicht nur um die Vermehrung von Wissen, denn häufig führt das zu einem Spezialistentum, das wiederum vom eigentlichen Problem ablenkt. Vielmehr brauchen wir eine neue Denkweise. 

Im hinteren Teil des Baus stehen sechs Tische mit dichten Informationen. (Foto: Enrico Fiorese)

Diese kann auf ganz einfachen Erkenntnissen basieren, etwa auf der Einsicht, dass alle Phänomene auf dieser Erde irgendwie miteinander verbunden sind. Die Gaia-Hypothese, die Mitte der 1970er-Jahre von Lynn Margulis und James Lovelock entwickelt wurde, betrachtet die Erde und ihre Biosphäre als ein einziges Lebewesen. Was sich damals etwas esoterisch anhörte, ist heute von der Wissenschaft weitgehend bestätigt worden (Zweifler gibt es natürlich immer). Auch das Gedankengut von «Oceans in Transformation» gründet auf dieser Tradition. So wie die Trennung von Kultur und Natur künstlich ist, müssen auch Land und Meer als eine Einheit verstanden werden. Solche Denkansätze haben auch die Fellows während ihrer Residenz entwickelt. 

Zusätzlich macht eine Neon-Installation auf der Fassade der Kirche die Bedrohung mit einfachen Mitteln erfahrbar. Eine leuchtende Linie verkündet auch für nächtliche Passant*innen eine klar verständliche Botschaft: Sie zeigt den erwarteten Wasserspiegel für das nächste Jahrhundert an. Wer Venedig jeweils im Herbst oder Winter besucht, kann Zeuge werden der deutlichen Zunahme der Hochwasser-Vorkommnisse seit der Jahrtausendwende. Das Eröffnungsprogramm der Ausstellung wurde ergänzt durch Filmvorführungen, Touren und Konzerte. Interessierte können sich bis zum Ende der Ausstellung online auch für die «Ocean Uni» anmelden, die zwei Mal pro Monat stattfindet. Die Frage ist, wie viel solche Ausstellungen bewirken können. Anders zu denken ist zwar ein Anfang, wichtig wäre es, auch anders zu handeln.

Die Daten werden auf den Bildschirmen visuell dargestellt. (Foto: Enrico Fiorese)

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