Verdichtung und Erhaltung – zwei Zeichen unserer Zeit
Juho Nyberg
28. de març 2019
Von links nach rechts: Hans Egloff, Moderator Felix E. Müller, Martin Killias, Arnold Marti. Bild: Juho Nyberg
Der Zürcher Heimatschutz lud diese Woche zu einer Podiumsdiskussion unter dem Titel «Verdichtet Bauen? Ortsbilder schützen? So machen wir es richtig!»ein. Nationalrat Hans Egloff (SVP), der Präsident des Schweizer Heimatschutzes, Martin Killias, und Arnold Marti, Professor an der Universität Zürich, diskutierten über das Bundesinventar ISOS.
Findet ein Fachbegriff Eingang in die Alltagssprache, ist das ein untrügliches Zeichen für dessen Aktualität. So geschehen mit dem Wort «Verdichtung»: Aus den Lehrbüchern der Raumplanung und dem Text des Raumplanungsgesetzes (RPG) kommend hat es dieser terminus technicus schon seit einiger Zeit in aller Munde geschafft. Durchaus zu Recht, denn die Verdichtung betrifft uns alle. Täglich erleben wir sie in Gestalt von Baustellen, Neubauquartieren und überfüllten S-Bahnen. Das RPG, dessen zweite Revision momentan läuft, schreibt die Verdichtung nach innen bereits in Artikel 1 vor. Dort heisst es, die Siedlungsentwicklung sei nach innen zu lenken – unter Berücksichtigung einer angemessenen Wohnqualität – und es gelte kompakte Siedlungen zu schaffen. Dies wird die Schweizer Ortsbilder unweigerlich verändern. Zu führen ist eine Debatte darüber, wo und in welchem Mass dies geschehen soll. Nationalrat Hans Egloff hat in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, Lockerungen unter anderem beim Bundesinventar ISOS vorzunehmen. Er möchte, dass Bauten aus diesem entlassen werden können, wenn es der Verdichtung dienlich ist. Dies hat den Heimatschutz alarmiert, der eine Podiumsdiskussion mit dem SVP-Politiker organisierte. Sie fand am Montag, dem 25. März 2019, in Zürich statt.
Die Annahme des Natur- und Heimatschutzartikels 1962 durch das Schweizer Stimmvolk und die Verabschiedung eines entsprechenden Bundesgesetzes vier Jahre später waren erste Schritte zur Unterschutzstellung ausgesuchter Objekte. Zehn Jahre nach der Ergänzung der Verfassung durch den Heimatschutzartikel erhielt die Architektin Sibylle Heusser, damals Gastdozentin für Städtebau an der ETH Zürich, den Auftrag, ein Inventar der schützenswerten Bauten der Schweiz zu erstellen – eine Herkulesaufgabe. Weil es an brauchbaren Kriterien für die Bewertung der Schutzwürdigkeit fehlte, entwickelte Heusser zunächst Richtlinien, die sich auf Siedlungen aller Art anwenden liessen. Bereits zwei Jahre später, am 9. September 1981, erliess der Bundesrat eine Verordnung, die eine Aufzählung schützenswerter Objekte umfasste. Von Aarwangen bis Zwingen (BL) wurden rund 1'300 Bauten in etwa 6'000 Gemeinden als «von nationaler Bedeutung» klassifiziert und im ISOS dokumentiert. Die Hoheit über Neuaufnahme und Streichung verblieb beim Bundesrat. Die Kantone wurden zur Berücksichtigung des ISOS bei der Erstellung ihrer Richtpläne verpflichtet.
Klang etwas zu sehr nach Workshop: das Motto der Podiumsdiskussion des Zürcher Heimatschutzes. Bild: Juho Nyberg
Die Positionen der DiskutantenGerade diese Berücksichtigungspflicht strich Arnold Marti, Jurist und ehemaliges Mitglied der Expertengruppe Revision RPG, an der Podiumsdiskussion heraus. Das ISOS sei als Grundlage zur Interessenabwägung im kantonalen Kontext zu verstehen. Oft sei es sogar das einzige unabhängige Instrument zur Qualitätssicherung bei Verdichtungsaufgaben. Man merkte es sogleich: Marti ist ein starker Befürworter des ISOS. Neben ihm war mit Martin Killias ein weiterer Verfechter eingeladen. Er verwies in seiner Einleitung auf den Interessenkonflikt zwischen Erhalt und Verdichtung, welcher bei der Verlagerung der Bautätigkeit in die Ortskerne entsteht. Viel lieber sähe er die Verdichtung in der Agglomeration. Ob es dort weniger Schützenswertes gibt? Die von Killias gezeigten Negativbeispiele jedenfalls befinden sich allesamt nicht in urbanen Zentren, sondern in Lenzburg, Stäfa und Zürich-Witikon. Er präsentierte zum Beispiel ein verloren herumstehendes historisches Haus inmitten von höchstens durchschnittlichen Neubauten in Stäfa, das seinem ursprünglichen Kontext beraubt eher wie ein Feigenblatt als eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der baugeschichtlichen Vergangenheit des Ortes wirkt. Es verhält sich ähnlich wie übergelassene Kamine abgebrochener Industrieanlagen, die nicht als ernst gemeintes Zitat, sondern als peinliche Dekoration in manchen Neubaugebieten herumstehen. Auf solchen Tand kann man auch verzichten.
Den beiden stand Hans Egloff, Nationalrat und Präsident des Schweizerischen Hauseigentümerverbandes, gegenüber. Gesprächsleiter Felix E. Müller führte ihn als Kontrahenten ein. Doch konnte er der Rolle des Advocatus Diaboli nicht vollends gerecht werden – wollte dies wohl auch nicht. Seine einführende Stellungnahme klang äusserst pragmatisch. Egloff redete der Verdichtung nach innen das Wort. Das ISOS in seiner jetzigen Form erschwere diese jedoch, sagte er. Das blieb die einzige Spitze gegen das Bundesinventar. Wie Arnold Marti zuvor betonte auch Egloff die Notwendigkeit einer Interessenabwägung, womit bereits zu Beginn der Diskussionsrunde eine gemeinsame Basis sichtbar wurde. Auf dieser Grundlage wurde im Folgenden nur noch über Details debattiert. Man näherte sich weiter an und wies auf einige bisher wenig bekannte Feinheiten hin. So bemerkte Martin Killias, dass vom Heimatschutz nur ein Zehntel der Inventarentlassungen angefochten werden und man die allermeisten klaglos akzeptiere. Arnold Marti meinte, das ISOS müsse überarbeitet oder modernisiert werden, aber nicht ausgebaut. Damit schlug er ebenfalls moderate Töne an. Als richtungsweisendes Beispiel nannte er die Entwicklung des Zürcher Universitätsquartiers, wo der Bund Bildung und Gesundheitswesen den Vorrang vor der Schutzwürdigkeit des Ensembles gegeben hat.
Bild © Bundesamt für Statistik
Warum verdichten?Ebenfalls einig war man sich bei der Ursache, die zur Notwendigkeit der Verdichtung führt: dem aktuellen und prognostizierten Bevölkerungswachstum. Hans Egloff hatte eingangs erwähnt, dass das Bundesamt für Statistik von einem Anstieg um 800'000 Personen bis ins Jahr 2028 ausgeht. Daraus leitete er einen Bedarf von rund 350'000 neuen Wohnungen ab. Diese Prognose bereitete Martin Killias Unbehagen. Nur mit Mühe umschiffte er die offene Forderung nach einer Beschränkung der Zuwanderung. Dies war für den SVP-Nationalrat ein gefundenes Fressen: Triumphierend wies er darauf hin, dass dies eine Forderung seiner Partei sei. ISOS und die Raumplanung, so fuhr Egloff fort, seien jedoch ungeeignete Instrumente für die Migrationspolitik. Aus der lebhaft geführten Diskussion liess sich gut ersehen, dass die persönlichen Standpunkte viel Sowohl-als-auch beinhalteten. Das vielschichtige und komplexe Thema lässt offensichtlich Parteigrenzen verschwimmen. Anstelle des SVP-Politikers übernahm Martin Killias im Gesprächsverlauf zunehmend die Rolle des ängstlichen Konservativen: Er schilderte mit Schrecken die Situation in Genf, wo sich viele Schweizer*innen im grenznahen Ausland niederlassen. Denn sie können oder wollen sich die teuren Wohnungen nicht mehr leisten. Schuld sei die Zuwanderung, welche Wohnungsknappheit und Preisdruck verursache. Später erzählte er anekdotenhaft von einem Bekannten, der sein Zürcher Heimatquartier Milchbuck mittlerweile nicht mehr wiederkenne. Schuld seien die aufgrund des Mangels an Wohnraum nötigen Eingriffe in den Baubestand. Für diese «Zerstörung» bemühte er gar das Bild eines Flächenbombardements.
Nicht Milchbuck in Zürich, sondern Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg. Bild © Imperial War Museum
Doch zurück zu den Ursachen und Fakten. Neben dem Bevölkerungswachstum ist auch der immer noch steigende Pro-Kopf-Verbrauch an Wohnfläche ein Problem: Kam man 1970 durchschnittlich noch mit 27 Quadratmetern pro Kopf aus, so waren es im Jahr 2000 bereits 44. Derweil ist der Anteil der Miete am Haushaltsbudget weniger grossen Veränderung unterworfen. Er liegt relativ konstant zwischen 15 und 20 Prozent. Die von Killias und Marti aufgebrachte Idee einer Wohnflächensteuer – beispielsweise ab einem Verbrauch von über 30 Quadratmetern pro Person – lehnte Egloff als Lenkungsabgabe kategorisch ab. Als ordentlicher Liberaler würde er lieber Anreize schaffen, meinte er. Wie diese aussehen könnten, liess er offen.
Die Schweiz hat das wohl einmalige Privileg, ein weit zurückreichendes und von Kriegsverheerungen verschontes bauliches Erbe zu besitzen. Dass dieses auch künftig zu bewahren und zu pflegen ist, war an der Diskussion unbestritten. Es war gut zu sehen, dass in den fundamentalen Punkten weitgehend Übereinstimmung herrscht und allseits sogar eine Aktualisierung des ISOS wenn nicht als notwendig, so doch als möglich angesehen wird. Dass eine innere Verdichtung stattfinden muss und wird, war gleichfalls unstrittig. Oder wie Martin Killias es formulierte: «Sie geschieht von selbst. Man muss sie nur in geordnete Bahnen lenken.»
Neben dem ISOS und dem RPG entwickelt eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe des Bundesamtes für Kultur seit 2016 eine Strategie zur Förderung der zeitgenössischen Baukultur. Bis Ende 2019 soll diese dem Bundesrat vorgelegt werden. Mit ihr sollen die Weichen für ein umsichtiges Fortschreiben der Schweizer Baugeschichte gestellt und dabei die Koexistenz von Alt und Neu gewahrt werden.
- Das ISOS in Kürze – Die 18 Kernsätze
- Strategie zur Förderung der zeitgenössischen Baukultur
- Verordnung über das Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder (mit Liste)
- Präzedenzfall Rüti ZH (Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung)
- Ein Porträt von Sibylle Heusser bei SRF2
- Aufbau und Abbau des Ortsbildschutzes (aus Heimatschutz, 4/2016)