Zyklisch und facettiert

Inge Beckel
3. 十一月 2016
Nelson-Atkins Museum of Art, Steven Holl Architects. Bild: Roland Halbe

1932 findet sich in der Schweizerischen Bauzeitung SBZ eine kurze Mitteilung1 über ein künstlich belichtetes Produktionsgebäude in den USA. Dieses habe, so heisst es, keinerlei Fenster. Denn im Innern des Gebäudes seien die Lichtverhältnisse für die dort zu verrichtende Arbeit vielfach getestet und derart optimiert worden, dass keine Lichtschwankungen oder Störungen durch sich verändernde Helligkeiten des Tageslichts geduldet werden könnten – weswegen man gänzlich auf Fenster verzichtet habe. Dieser Zugang zum Thema Licht geht ausschliesslich vom Produkt aus. Für dessen Herstellung seien die Lichtbedingungen im Raum bestmöglich eingerichtet worden. Ein anderes Lichtkriterium galt nicht.

Maryline Andersen, die an der EPF in Lausanne lehrt, demgegenüber stellt Menschen ins Zentrum ihrer Forschung: a human-centric approach2. Mit ihrem Team forscht sie im Rahmen ihres Labors mit dem Namen Lipid, Interdisciplinary Laboratory of Performance-Integrated Design, hauptsächlich zu Tageslicht. Deswegen die Verleihung des «Daylight Award» 2016 im Bereich Forschung. Worin aber liegt die Bedeutung von Tageslicht? Früher, sagt Andersen, hätten Menschen ihre Zeit während des Tages mehrheitlich draussen verbracht. Auf den Feldern, unterwegs, vor Zelten oder Häusern, jedenfalls draussen. Heute aber verbringen die meisten Menschen durchschnittlich 90 Prozent ihrer Zeit in Innenräumen.

Ganzheitlich angesetzte Studie, das Tageslicht unter visuellen und gesundheitlichen Aspekten zu erfassen. Bild: M.L. Amundadottir, S. Rockcastle, M. Sarey Khanie, LIPID Lab, EPFL

Tages- und Kunstlicht
Ob denn Kunstlicht nicht gleich gut sei wie Tageslicht? Nun, antwortet, Marilyne Andersen, das könne man nicht sagen. Es gebe keinen Nachweis, dass Kunstlicht schlechter sei als Tageslicht. Gleichzeitig müsse viel berücksichtigt werden, wolle man mit Kunstlicht dieselben Verhältnisse wie bei Tageslicht schaffen. Tageslicht entspricht einem jeweils natürlichen Zustand. Selbstverständlich schwankt dieses oft und stark. Seine Intensität, seine Muster und Farbigkeit verändern sich, sowohl im Rhythmus des Tages als auch im Rhythmus der Jahreszeiten. Und es ist wetterabhängig. Und ortsabhängig. So leiden Menschen in stark nördlichen Lagen (auf der nördlichen Erdhalbkugel) im Winter tendenziell unter zu wenig Licht. Während sich die Menschen in Äquatornähe grundsätzlich vor zu viel Sonne schützen müssen.

Doch, als Beispiel, nimmt natürlicherweise der blaue Lichtanteil gegen Abend ab. Kunstlicht sollte, will es dieselben Qualitäten wie Tageslicht haben, also im Tagesrhythmus vergleichbare Veränderungen vollziehen. Gleichzeitig gibt es keine klar definierbare Zahl oder keinen festen Quotienten des jeweils richtiges Lichts. Vielmehr ist es unregelmässigen und regelmässigen Schwankungen unterworfen, auch persönlichen Gewohnheiten und Verhaltensmustern. Es weist unterschiedliche Intensitäten auf, je nach Ort, Zeit oder – mit Blick auf die Architektur – je nach Befensterung eines Raumes. Es ist also durchaus möglich, dass Kunstlicht ebenso gut ist wie Tageslicht. Doch eben, es sind sehr viele, sich zudem verändernde Faktoren, die es zu berücksichtigen gilt. Licht ist nicht statisch. Licht ist vielmehr zyklisch und facettiert.

Reid Building, Glasgow School of Art, Steven Holl Architects. Bild: Iwan Baan

Gesundheit und Wohlbefinden
Nun kann man fragen, warum dieser ganze Aufwand? Warum nicht einfach sagen, Tageslicht und Kunstlicht sind unterschiedlich; entweder wir sind dem einen oder dem anderen ausgesetzt – meist beiden kombiniert. Doch brauchen Menschen Licht nicht nur, um zu sehen, sich zu orientieren. Sondern es ist auch gesundheitsrelevant. So kann das schwache winterliche Licht im nördlichen Skandinavien für dort lebende Menschen bekanntlich problematisch sein und zu Depressionen führen. Nun ist diese Erkenntnis sicherlich nicht neu. Denken wir beispielsweise auch an die Tuberkulosekranken, die – vor der Entdeckung von Streptomyzin – zur Heliotherapie stundenlang an der Sonne liegen mussten. Weswegen man im frühen 20. Jahrhundert damit begann, meterlange Balkone oder Lauben vor deren Zimmer zu bauen.3

Denken wir an Tageslicht, geht es im Alltag wohl aber mehr um Wohlbefinden denn Heilung. Das schwache, rötliche Licht bei Morgen- wie Abenddämmerung, das helle Licht während des Tages. Zuweilen fast schummriges Licht bei bewolktem, starke Helligkeit bei klarem Himmel. Es sind diese Stimmungen und Empfindungen, die uns von klein auf begleiten. Sie strukturieren unser Leben. Sie gliedern die Jahre. Sie geben uns Halt. Ohne Radio oder App wissen wir beim Blick auf die verregnete Strasse vor dem Haus, dass wir uns warm anziehen, einen Schirm mitnehmen müssen. Oder wir machen während der Arbeit eine Pause, beobachten jetzt im Herbst die bunten fallenden Bätter. Licht brauchen Körper und Seele, Kopf und Herz. Licht beeinflusst unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden.

Reid Building, Glasgow School of Art, Steven Holl Architects. Bild: © Iwan Baan

Variierende Öffnungen, unterschiedlicher Lichteinfall
Der «Daylight Award» wird von der Velux Stiftung und zwei dänischen Schwesterstiftungen, Villum Fonden und Velux Fonden, und in diesem Jahr erstmals verliehen. Es ist eine Nachfolgeauszeichnung mehrerer Preise im Bereich Tageslicht, die seit 1980 zweijährlich vergeben wurden. Der «Daylight Award» aber berücksichtigt neben der Kategorie Praxis erstmals die Wissenschaft; er ist mit 100'000 Euro dotiert. Vertreter der Praxis ist 2016 Steven Holl. Sieht man sich nun beispielsweise Holls oben abgebildeten Arbeits- und Studienraum in der «Glasgow School of Art» an, lassen sich drei oder gar vier Tageslichtquellen ausmachen: ein Fensterband auf Augenhöhe, das neben dem Lichteinfall den Blick aus dem Fenster zulässt, ein Oberlicht, das einen das Wetter miterleben lässt und die gegenüberliegende Wand aufhellt, sowie eine Öffnung im Bereich des Treppenhauses. Den Bildhintergrund hellt eine weitere Lichtquelle auf.

Im Gegensatz zu den heute verbreiteten Fensterplatzierungen, die meist Lichteinfall und Blick aus dem Fenster in einer Öffnung kombinieren, oder den alles gleichförmig umhüllenden Fassadenverglasungen variierten viele Architekten früherer Generationen Anordnung und Funktion von Fenstern stark. So finden sich in älteren Gewölben oft Fenster, die den Blick nach aussen freigeben, und gleichzeitig kleinere Öffnungen in den Gewölbescheiteln, deren Funktion es ist, Licht tiefer ins Rauminnere fallen zu lassen. Oder in südlichen Ländern gibt es noch heute im Fussboden gewisser Erdgeschossräume kleine vertiefte Öffnungen, die nicht nur den Boden aufhellen, sondern gleichzeitig Tageslicht in den Kellerraum darunter fallen lassen. – Als Resumé: Le Corbusier soll ja gesagt haben: «L'architecture est le jeu savant, correct et magnifique des volumes assemblés sous la lumière.» Und der Räume. Gemeint war das Tageslicht.

Kiasma Museum of Contemporary Art, Steven Holl Architects. Bild: Paul Warchol

Anmerkungen
1 Mitteilungen, Fensterlose Gebäude, in: SBZ, 1932, Bd. 99, Nr. 10, S. 128.
2 Vgl. etwa: Maria L. Amundadottir, Siobhan Rockcastle, Mandana Sarey Khanie and Marilyne Andersen, Interdisciplinary Laboratory of Performance-Integrated Design (LIPID), School of Architecture, Civil and Environmental Engineering (ENAC), École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL), A human-centric approach to assess daylight in buildings for non-visual health potential, visual interest and gaze behavior , auf: ScienceDirect, wissenschaftliches Onlineportal, 1. Oktober 2016, hier.
3 Christof Kübler, Wider den hermetischen Zauber – Rudolf Gaberel und Davos. Rationalistische Erneuerung alpiner Architektur um 1930, Chur 1997.

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