Das Experiment von Venedig
Jenny Keller
5. 五月 2016
Christian Kerez, Incidental Space, 2015 (zugeschnitten). Bild: Oliver Dubuis © Christian Kerez
«Incidental space» heisst der Schweizer Beitrag an der Architektur-Biennale in Venedig von Christian Kerez und der Kuratorin Sandra Oehy. Wir wollten wissen, was uns im Schweizer Pavillon erwartet.
Die Biennale di Venezia findet seit 1895 als Kunstausstellung statt. Seit 1980 gibt es alternierend dazu auch eine Architekturbiennale. Wer sind die Adressaten dieser Architekturausstellung?
Christian Kerez: Die Biennale ist ein Grossanlass. 2014 waren 270’000 Besucher in Venedig, darunter natürlich viele Architekten und viele Architekturstudenten. Fast alle namhaften Architekten sind in der Eröffnungswoche für ein paar Tage in Venedig präsent, ob sie nun ausgestellt haben oder nicht – wahrscheinlich gibt es keinen vergleichbaren Event in der Architekturwelt. Die Biennale ist ausserdem ein Ort der Debatten, ein Ort der Auseinandersetzung und ein Ort, wo man sich informiert. Eine Ausstellung an der Biennale muss sich zweimal bewähren, während der Preview und auch nach dem Rummel. Sie führt beinahe ein Doppelleben.
Sandra Oehy: Das Publikum ist unglaublich heterogen. Ein signifikanter Teil der Besucher gehört nicht zum Fachpublikum, darunter sind Touristen und Schulklassen aus der Region. Zusätzlich zur Bandbreite des Publikums vor Ort erreicht man durch die mediale Berichterstattung auch eine Öffentlichkeit im eigenen Land. Das ist eine interessante und einmalige Konstellation, die die Biennale auszeichnet. Unsere Ausstellung geht darauf ein, dass es verschiedene Zugangsweisen zum Projekt geben muss.
Herr Kerez, Sie wurden von Pro Helvetia für die Gestaltung des Schweizer Pavillons nominiert. Wie fühlte es sich an, den Auftrag für diese geschichtsträchtige Ausstellung zu erhalten?
Für mich persönlich war es nicht anders, als wenn man zu einem Wettbewerb eingeladen wird: Nach einem kurzen Moment der Vorfreude kommt die grosse Arbeit. Es gibt ja nicht so viele Beispiele, die beweisen, dass es möglich ist, etwas Spannendes zu machen. Es ist so gesehen nicht a priori eine Auszeichnung, sondern eine Herausforderung. Daneben ist es ein enormer zeitlicher Aufwand bei einem bescheidenen Budget. Als Architekt ist man gewohnt, drei, fünf oder sieben Jahre an einem Projekt zu arbeiten, hier war nach einem halben Jahr Planung bereits Baubeginn.
Der Architekt Christian Kerez und die Kuratorin Sandra Oehy. Bilder: Pro Helvetia/Christian Beutler, Marcella Gschliesser
Wie funktioniert die Zusammenarbeit Kuratorin und Aussteller?
CK: Für mich ist es eigentlich selbstverständlich, dass man als Architekt einen Kurator zur Seite hat bei einer Ausstellung, denn man begibt sich auf fremdes Terrain. Der Kurator ist ein wertvoller Diskussionspartner bei wichtigen Entscheidungen. Nach meiner Nominierung durch Pro Helvetia habe ich Sandra Oehy angefragt, die mir ein Begriff war vom Deutschen Beitrag 2014, der meiner Meinung eine der interessantesten Beiträge an der letzten Biennale gewesen ist. Was wir nun im Schweizer Pavillon machen, hat denselben Ansatz: Wir stellen Architektur mit Architektur aus.
SO: Es ist genau diese Haltung gegenüber einer Architekturausstellung, die ich spannend und produktiv finde. Das Projekt nutzt das Medium der Architekturausstellung als gleichwertigen Teil einer kritischen architektonischen Praxis, als Ort der Erforschung und Produktion.
CK: Man kann also sagen, wir haben uns thematisch gefunden.
Wie stellt man denn Architektur aus? Und was ist Architektur überhaupt? Ist es Raum, ist es eine Haltung?
CK: Architektur ist ein eigenes Medium, das unmittelbar erfahrbar ist. Ich denke, es gibt nichts, was die unmittelbare Erfahrung der Architektur ersetzen kann, und Architektur lässt sich nur bedingt in ein anderes Medium übersetzen. Genau das vergisst man sehr oft: Man schaut sich Häuser in Publikationen an und beurteilt Bauten, die man nie persönlich erfahren hat, nur aufgrund von Plänen oder anhand von Bildern. Das ist eigenartig. Fast so, als ob man Kinofilme beurteilen würde, von denen man nur die Rezension gelesen hat. Deshalb war von Anfang an klar, dass wir in Venedig einen Raum bauen. Wir wollen es möglich machen, dass man Architektur unmittelbar erleben und sich selbst ein Bild des Raumes machen kann. Das Anschauungsmaterial ersetzt die Architektur also nicht. Gleichzeitig ist die Darstellung des Raumes auch Thema.
SO: Wir wollen die körperliche Erfahrung des Raums dabei nicht dogmatisch in den Vordergrund stellen. Aber wir finden, dass diese Qualität der Architektur in der Architekturausstellung zu wenig genutzt wird. Wir nutzen dieses Potenzial nicht nur, sondern legen unsere Beschäftigung damit im Rahmen der Gesamtausstellung offen. Durch die mediale Verbreitung einer Architekturausstellung in Form von Bildern und im Internet stellt sich die Frage nach der Legitimation derselben. Uns interessiert deshalb auch die Frage, welche Art Ausstellung man kuratieren kann, die vom Besucher fordert, physisch präsent zu sein. Dadurch gehen wir auf das Medium der Ausstellung ein, die ja temporär ephemer ist. Die Komplexität des Projekts als Ganzes ist nicht einfach in der Kommunikation, aber mit dem gebauten Raum möchten wir jedem Besucher der Ausstellung einen Zugang zum Projekt ermöglichen, egal wie der Wissensstand des einzelnen aussieht. Der Diskurs über Architektur sollte nicht nur unter Fachpublikum stattfinden!
Der Schweizer Pavillon in den Giardini von Venedig sei nicht einfach zu bespielen, sagt Christian Kerez. Referenzbild: Pro Helvetia
Nicht einfach scheint mir auch die Ausgangslage zu sein, dass man einen spezifischen Ort – konkret Bruno Giacomettis Pavillon – zu bespielen hat.
CK: Unser Raum ist kein Verweis auf einen anderen Raum oder auf eine Arbeit von mir, auch nicht auf ein Gebäude an einem Ort. Es ist ein Raum, der sehr offen ist. Er ist als Raum selbst eine Behauptung. Deshalb der unbestimmte, etwas rätselhafte Titel «Incidental Space». Man darf sagen, dass der Schweizer Pavillon sehr schwierig zu bespielen ist. Er wurde entworfen wie ein kleines Museum mit einem Grafik-, einem Skulpturen- und einem Gemäldesaal. Sehr additiv, auch etwas kleinlich, also durchaus schweizerisch, im Guten wie auch im Schlechten. Jetzt haben wir eine kongruente Entsprechung gefunden, aber es ist kein einfacher Raum, kein einfacher Kontext.
Ihr Raum ist also ortsspezifisch, weil er in den Giardini von Venedig steht, und er muss ja in den Pavillon von Giacometti passen ...
CK: So viel steht fest, er passt nicht durch die Türe des Pavillons, das darf ich verraten.
Können Sie denn jetzt schon etwas über die Materialität des Raumes sagen?
CK: Das einzige, das man sagen kann, ist, dass der Raum in jeder Hinsicht ein Experiment ist und dass auf diese Art und Weise noch nie ein Raum gebaut worden ist. Seine Realisierung war nur möglich im Rahmen eines Netzwerks von Entwicklungs- und Produktionspartnern aus Industrie und Forschung, darunter der Ingenieur Dr. Joseph Schwartz, die digitale Fabrikationswerksatt der ETH und Holcim. Es ist ein interdisziplinärer Raum, in dem viel Know-how der Schweiz steckt. Und: Er ist ein Experiment, weil ich noch nie etwas Vergleichbares gemacht habe – und nie mehr machen werde.
La Biennale di Venezia
15. Architekturbiennale
Venedig (Giardini and Arsenale), 28. Mai bis 27. November 2016
Preview, 26. und 27. Mai