Die vergessene Architekturgeschichte

Elias Baumgarten
7. März 2024
Axelle Stiefel, «Sketch of process» (© Axelle Stiefel)

Lisbeth Sachs (1914–2002) war eine der ersten eingetragenen Architektinnen der Schweiz. Die Pionierin diplomierte 1939 bei Otto Rudolf Salvisberg an der ETH Zürich – zusammen mit fünf Frauen und 55 Männern. Kurze Zeit später, sie war gerade 25, gewann sie ihren ersten Wettbewerb – damals eine echte Sensation. Doch ausführen durfte die frischdiplomierte Architektin ihren Entwurf für das Kurtheater Baden nur gemeinsam mit dem zweitplatzierten Otto Dorer, der ihr als Berater zur Seite gestellt wurde. Ein weiterer Höhepunkt ihrer Karriere folgte Ende der 1950er-Jahre: Lisbeth Sachs wurde mit der Gestaltung der Kunstpavillons und der Städtebau-Ausstellung für die zweite Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit (SAFFA) beauftragt. Sie entwarf eine Halle mit einer dünnen Dachhaut, die zwischen Ringen aus Beton und einer filigranen Stahlkonstruktion aufgespannt wurde. Kunstwerke konnten an dynamisch im Raum verteilten Wandscheiben aufgehängt werden, mit Vorhängen liessen sich die Räumlichkeiten unterteilen. 

Obwohl Lisbeth Sachs eine hervorragende Architektin war, fand sie in der Architekturgeschichtsschreibung lange wenig Beachtung. Das mag auch daran liegen, dass die bescheidene Gestalterin, die neben ihrer praktischen Tätigkeit für die renommierten Fachzeitschriften archithese und Werk schrieb, zwar für andere warb, doch selten für sich selbst. Lisbeth Sachs machte zum Beispiel die Architektur Alvar Aaltos und Frei Ottos in der Schweiz bekannt, wie Rahel Hartmann Schweizer in der Einleitung ihres Buches «Lisbeth Sachs. Architektin. Forscherin. Publizistin» schreibt, das der gta Verlag 2020 als erste umfassende Monografie der Architektin herausbrachte.

Blick in die Kunsthalle der zweiten Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit, die 1958 in Zürich stattfand. Lisbeth Sachs entwarf das Bauwerk zusammen mit Werner Müller. Mit ihren Vorschlägen zur Gesamtplanung der Schau konnte sie sich indes nicht durchsetzen. Zur Chefarchitektin wurde Annemarie Hubacher bestimmt. (Foto: Erica Müller-Rieder, 1958, gta Archiv, ETH Zürich)

Was aber hat all das mit der kommenden 19. Architekturbiennale von Venedig zu tun? Lisbeth Sachs war eine Zeitgenossin des Architekten Bruno Giacometti, der den Schweizer Pavillon in den Giardini entwarf. Die Kulturstiftung Pro Helvetia hat die Gruppe Annexe, die aus Architektinnen und Künstlerinnen besteht, ausgewählt, den Giacometti-Bau zu bespielen. Die Kuratorinnen Elena Chiavi, Kathrin Füglister, Amy Perkins und Myriam Uzor, die ihr Projekt in Zusammenarbeit mit Axelle Stiefel und Emma Kouassi umsetzen werden, fragen: «Was wäre, wenn nicht Bruno Giacometti, sondern Lisbeth Sachs den Schweizer Pavillon in den Giardini della Biennale di Venezia entworfen hätte?»

Im Zentrum ihrer Schau wird Lisbeth Sachs’ besagte Kunsthalle stehen. Annexe möchte das Bauwerk im Schweizer Pavillon aufleben lassen. Über ihr Konzept sagen die Kuratorinnen: «Keiner der insgesamt 30 permanenten Länderpavillons in den Giardini wurde von einer Architektin entworfen oder gebaut. Diese Lücke lässt sich nicht durch die Rekonstruktion von Lisbeth Sachs’ Kunsthalle füllen. Mit unserer Arbeit wollen wir ein körperliches Raumerlebnis schaffen, das für die Dauer der Architekturausstellung neue Zugänge eröffnet.» Der Beitrag solle auf die mangelnde Anerkennung für Frauen in der Architekturgeschichte aufmerksam machen und der «anhaltenden Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im Architekturberuf und im Bausektor» entgegenwirken, erklärt die Jury. Sie hat die Gruppe Annexe in einem zweistufigen Prozess ausgewählt, an dem nur von Pro Helvetia eingeladene Kandidatinnen und Kandidaten teilnehmen durften. Dass dadurch viele Ideen von vornhe­r­ein ausgeschlossen blieben, ist schade.

Was genau die Gäste im Schweizer Pavillon erwartet, wenn die Biennale am 24. Mai 2025 beginnt, ist zurzeit noch nicht bekannt. Doch die Themensetzung überzeugt schon mal. Es steht der Schweiz gut, die Rolle von Architektinnen in der Vergangenheit und heute an der Biennale zur Sprache zu bringen. Schliesslich stand die Eidgenossenschaft in ihrer Geschichte nicht gerade für Fortschrittlichkeit in Sachen Gleichstellung. Und trotz aller Verbesserungen bleibt hierzulande politisch noch eine Menge zu tun – zum Beispiel gegen die Lohnungleichheit, bei der beruflichen Vorsorge oder im Steuersystem, um nur einige Punkte herauszugreifen. Der Fokus auf Lisbeth Sachs ist aber auch deshalb klug gewählt, weil ihre Haltung aus heutiger Sicht verblüffend zeitgemäss erscheint. Sie beschäftigte sich mit einer Architektur, die gleichsam organisch aus der Topografie herauswachsen und umwelt- und sozialverträglichen Prinzipien folgen sollte. So bieten sich Anknüpfungspunkte zu aktuellen Debatten, etwa um das umweltfreundliche Bauen. Schon Anfang der 1950er-Jahre plädierte Lisbeth Sachs im Werk für «eine neue Bezugnahme auf die Natur, eine Bezugnahme in grossem, umfassenden Sinne, in welcher das menschliche Sein und Vergehen mit eingeschlossen ist, in der Empfindung also für eine Allverwandtschaft zwischen Pflanze, Tier, Mensch und Stein, auch zwischen den Schöpfungen des Menschen und der Natur».

Lisbeth Sachs. Architektin. Forscherin. Publizistin

Lisbeth Sachs. Architektin. Forscherin. Publizistin
Rahel Hartmann Schweizer

225 x 300 Millimeter
220 Seiten
192 Illustrationen
Hardcover
ISBN 978-3-85676-402-9
gta Verlag
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Mit «Lisbeth Sachs. Architektin. Forscherin. Publizistin» hat der gta Verlag die erste umfassende Monografie zum Werk der Architektin herausgebracht. Zur Buchbesprechung

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