Zürich Nord – wo Grenzen verschwimmen
Manuel Pestalozzi
15. 九月 2022
Diese Luftaufnahme aus dem Jahr 2010 zeigt die Verzweigung der Bahnlinien von Zürich-Oerlikon zum Zürcher Flughafen beziehungsweise nach Wallisellen. Zwischen den Gleissträngen liegt das neue Quartier Leutschenbach. (Foto © Desair AG, Uster)
Zürich Nord ist eine Stadt des 20. Jahrhunderts. Sie hat eigentlich alles, doch keine klaren Konturen. Sie ist schwer fassbar und stets unfertig. Das neue Buch «Zürich Nord. Vom Dorf zur Global City» erzählt ihre Geschichte.
Zürich Nord wird primär mit dem Glatttal assoziiert, einer sanft gewellten Landschaft ohne klar definierte Grenzen. Die Glatt, der namensgebende kleine Fluss, ist in ihr erst auf den zweiten Blick auszumachen. Geprägt wird das Tal von ausgedehnten Moorebenen. Früher, als die Landwirtschaft in der Schweiz eine ungleich grössere Rolle spielte als heute, mass man ihnen nur einen geringen Wert bei. Heute jedoch sind sie wichtige Standorte für grosse Infrastrukturbauten wie den Zürcher Flughafen. Davon profitierte das Glatttal ebenso wie von seiner Nähe zum Zentrum Zürichs. Als urbaner Raum ist Zürich Nord indes schwer zu fassen. Die Stadt zerfasert dort in zahlreiche Fragmente.
Die kontrollierte Entwässerung der Moorlandschaften und die Möglichkeit, wasserundurchlässige Untergeschosse zu konstruieren, bewirkten ab dem späten 20. Jahrhundert ein starkes Wachstum: Zürich Nord breitete sich auf die einst unbebauten Flächen aus. Dieser Entwicklung ist das Buch «Zürich Nord. Vom Dorf zur Global City» gewidmet. Hinter ihm stehen drei Herausgeber: der Architekt Christoph Ackeret, der vom Textil- und Mode-Center (TMC) über den Atriumbau Galleria bis zum World Trade Center von Ernst Gisel beim Fernsehstudio Leutschenbach an zahlreichen Projekten in Zürich Nord beteiligt war, der Germanist und Kulturredaktor Gerhard Mack sowie der Architekt Peter Noser, der von 1990 bis 2013 im Hochbauamt der Stadt Zürich angestellt war und sich in diversen Funktionen wiederholt mit Zürich Nord befasste. Neben den Herausgebern arbeiteten am Inhalt des 180 Seiten starken Buches 32 Autor*innen, eine Fotografin und ein Fotograf. Getragen wurde das Projekt vom Verein Metropole Schweiz, der sich mit der Schweiz als «Aggloland» auseinandersetzt.
Lange bildete der Bahnhof Oerlikon zusammen mit dem Gleisfeld eine Grenze zwischen Wohnen und Arbeiten. Heute verbindet er die Quartiere auf beiden Seiten der Bahnanlagen. (Foto © Giuseppe Micciché)
Drei Orte im FokusIn den vergangenen Jahren ist viel geschehen in Zürich Nord. Das Buch «Zürich Nord. Vom Dorf zur Global City» befasst sich insbesondere mit drei Orten: Neu-Oerlikon, dem einstigen Industriequartier gegenüber dem Ortszentrum der Zürcher Vorstadt, dem rund einen Kilometer weiter östlich gelegen Leutschenbach sowie dem direkt nördlich anschliessenden Glattpark. Zu dieser Auswahl schreiben die Herausgeber, die Transformation der drei Orte in den letzten drei Dekaden sei eine besondere planerische Herausforderung gewesen. Sie «erfolgte jeweils mit unterschiedlichen Verfahren und Vorgaben – unter anderem aufgrund der unterschiedlichen Eigentümerstrukturen, Absichten und Zielsetzungen, die sie zu eigentlichen Musterfällen machen».
Entsprechend breit ist das Spektrum der Beiträge, aus denen sich das Buch zusammensetzt. Nach dem Auftakt aus der Feder des Architekturjournalisten Benedikt Loderer kommen Architekt*innen, Planer*innen, Mitglieder von Quartiervereinen und Fachleute aus Kultur, Kommunikation und Vermarktung zu Wort. Der Hauptteil des Buches ist in fünf Themenblöcke gegliedert: «Meilensteine der Entwicklung», «Auswirkungen auf den Städtebau», «Drei Fallstudien» (an dieser Stelle werden die drei besagten Gebiete behandelt), «Räume und Nutzer» sowie «Fazit und Ausblick».
Das Buch ist ein Mosaik aus Fotos, Plänen und vergleichsweise kurzen Texten, die verschiedentlich als Interviews im FAQ-Stil aufgebaut sind und die als wesentlich erachteten Fragen zum jeweiligen Thema beantworten. Es ist eher ein Buch zum Durchblättern, wie bereits die Gliederung und das Fehlen eines detaillierten Inhaltsverzeichnisses am Anfang oder eines Registers am Schluss suggerieren. Dennoch erheben einige Essays durchaus Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Unter diesem Widerspruch und dem zuweilen fehlenden roten Faden leidet die schön gestaltete Publikation etwas, insbesondere, weil sie interessante und wichtige Fakten enthält und die Gegenwart über die (Planungs)Geschichte verständlich macht.
Im Glattpark in Opfikon wurden mit dem Boulevard Lilienthal zugleich ein Quartierszentrum und eine Flaniermeile geschaffen. (Foto © Giuseppe Micciché)
Anstrengende VielstimmigkeitWie bereits angetönt, gibt es in dem Buch viel zu erfahren. Es vereint viele Stimmen, doch leider fehlt es dabei an Kohäsion, an einer Geschichte. Als Leser muss man die einzelnen Positionen selbst zueinander in Bezug zu setzen. Mir wären eine straffere Redaktion und vielleicht auch dezidierte Stellungnahmen der Herausgeber willkommen gewesen, an denen man sich als Leser auch einmal reiben kann. Schliesslich baut man nicht Städte, um niemandem wehzutun. Willensbekundungen sollten in einer Demokratie ebenso klar verortbar sein wie Hierarchien, ohne die es in einer hochkomplexen, arbeitsteiligen Welt einfach nicht geht. Zur Untermauerung dieser Kritik sei die Gliederung des Kapitels «Neu-Oerlikon» aus dem Buchteil «Drei Fallstudien» erläutert. Jenes beginnt mit dem Essay «Schöne neue Welt – gemeinsam Stadt gestalten» des ehemaligen Zürcher Stadtrats Richard Wolff, gefolgt vom faktenbasierten Artikel «Umnutzung der Industrieareale mit Sonderbauvorschriften» des Raumplaners Richard Heim und der Evaluierung «Städtebau und Architektur» der Architektin Silvia Ruoss, die 1992 gemeinsam mit Cary Siress und Karen Schrader den Ideenwettbewerb für die städtebauliche Gestaltung von Neu-Oerlikon gewonnen hat (was aber weder im Text noch im Porträt der Autorin am Ende des Buches Erwähnung findet). Auf diese Beiträge folgt die Präsentation von acht ausgewählten Projekten mit Fotos und teils auch mit Plänen. Es fehlt, wie man erkennen kann, etwas am Storytelling.
Dagegen gefällt, dass das Buch die Frage stellt, welche Lektionen Zürich Nord für die Zukunft bereithält. Der betreffende Beitrag ist als Gespräch mit fünf Personen aufgebaut. Jene bestätigen, dass jedes Planungsvorhaben gezwungenermassen ein Kind seiner Entstehungszeit ist, aber auch zukünftige Entwicklungen mitprägt. Was hat die Stadt daraus gelernt? Anna Schindler, Direktorin Stadtentwicklung Zürich, sagt: «Es gibt mittlerweile eine andere Dimension von Stadt, wie etwa bei der Europaallee [beim Zürcher Hauptbahnhof]. Man probiert mehr Vielfalt und versucht, über die einzelnen Parzellen hinaus an die ganze Stadt zu denken.» Diese Phase des Erprobens ist in Zürich Nord im Gange – Ende offen.
Zürch Nord. Vom Dorf zur Global City
Christoph Ackeret, Gerhard Mack und Peter Noser (Hrsg.)
200 x 285 Millimeter
180 页
256 Illustrations
Gebunden mit Flexicover
ISBN 9783039420902
Scheidegger & Spiess
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