Sozialistisches Design: Zwischen futuristischen Zukunftsvisionen und Handwerk

Eduard Kögel
11. maio 2023
Dieses Modell des «intelligenten Arbeitsraums» in Originalgrösse wurde an der Elektronik-Ausstellung des Jahres 1971 in Moskau gezeigt. (Foto: © Privatsammlung Wladimir Papernyj)

«Retrotopia. Design for Socialist Spaces» versammelt Designpositionen der 1950er- bis 1980er-Jahre aus Estland, Litauen, Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Kroatien, Slowenien, der Ukraine sowie der DDR. Das Spektrum der Projekte und Objekte reicht dabei von Hotelinterieurs und Wohnungseinrichtungen über kybernetische Wohnräume, Textil- und Glasinstallationen bis zu Gestaltungen der Visuellen Kommunikation im öffentlichen Raum.

Blick in die Ausstellung «Retrotopia. Design for Socialist Spaces», die aktuell im Kunstgewerbemuseum und Kulturforum in Berlin läuft. (Foto: © Staatliche Museen zu Berlin, David von Becker)

Die Ausstellung umfasst elf Themenschwerpunkte, die fast alle in zwei Unterbereichen dargestellt werden. Obwohl nicht explizit angesprochen, sind die Themen jeweils Ländern zugeordnet, die in der vorgestellten Zeitperiode teils noch nicht unabhängig waren. So werden unter je einem Schwerpunkt Arbeiten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine, Litauen und Estland, der ehemaligen Tschechoslowakei (Slowakei, Tschechien) sowie Ländern des ehemaligen Jugoslawiens (Slowenien, Kroatien) neben solchen aus der DDR, Ungarn und Polen präsentiert. 

Stets stammt das Material zu den Projekten und Objekten aus Archiven der heutigen Länder, was dazu führt, dass zum Beispiel etwas irritierend von «slowakischem Design» gesprochen wird. Ein Sonderfall bildet in der Ausstellung die Sowjetunion (UdSSR), die nur mit Materialien aus privaten Archiven vertreten ist. Aufgrund des Ukraine-Krieges war keine Kooperation mit offiziellen Sammlungen in Russland möglich. Das Verhältnis von Zentrum zu Peripherie bleibt so leider weitgehend unbeleuchtet.

Sonderschau «Space and Form I», Tallinner Kunsthalle, 1969, Designkonzept von Bruno Tomberg, Maia Laul, Kärt Voogre, Eha Reitel, Saima Veidenberg und Taevo Gan (Foto: © Estnisches Museum für Gewerbekunst und Design)
«Superfunktionale Informations- und Kommunikationseinheit Sphinx», alternative Konfiguration, Sowjetunion, 1986–1987 (Foto: © Privatsammlung)
Wohnträume, Propaganda und Kurhotels

Doch was gibt es in der Berliner Ausstellung im Einzelnen zu sehen? Der einzige Beitrag zur UdSSR stellt in «Utopien aus Plastik und Papier» zwei Designgruppen vor, die sich mit Ideen einer technologisch durchdrungenen Umwelt befassten. Das Zentrale didaktisch-experimentelle Studio der Vereinigung bildender Künstler der UdSSR (Senezh-Studio) bildete zwischen 1964 und 1991 mehr als 1500 Künstler*innen und Architekt*innen aus der UdSSR, aber auch aus Polen, der DDR und Bulgarien aus. Das 1962 gegründete Allunions-Forschungsinstitut für technische Ästhetik (VNIITE) konnte nur knapp ein Drittel seiner Entwürfe tatsächlich umsetzen. Die «Mobile Station für audio-visuelle Informationen» (1969–1972) etwa gehörte zum konzeptionellen «Wohn-Theater», das sich mit der Integration neuer Technologien in den Alltag befasste, aber aufgrund der Mangelwirtschaft nicht in die Massenproduktion kam.

Im Ausstellungsbereich «Die Stadt als Bühne» geht es auch um die «X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten», die 1973 in Ostberlin stattfanden. Das visuelle Erscheinungsbild setzte in radikaler Abkehr von den bis dahin dominierenden roten Fahnen und Porträts der politischen Führer auf die für Vielfalt, Internationalität und Frieden stehenden Regenbogenfarben, die ein Kollektiv der Kunsthochschule Berlin-Weissensee vorschlug. Die populäre Gestaltung evozierte bei der Jugend die Hoffnung auf eine offene Gesellschaft. Doch die Weltfestspiele blieben nur ein Hoffnungsschimmer, zu echten politischen Veränderungen kam es in der Folge nicht.

Als Gegenbild werden «Wohnalltag und Wunscheinrichtung» der 1970er-Jahre in der DDR thematisiert. Gezeigt werden Objekte wie Lautsprecher, Rundfunk- und Fernsehgeräte, Lampen und Möbel. Daneben sind Anleitungen zur Sanierung von Altbauten aus Zeitschriften zu sehen. Hier zeigt sich die Diskrepanz zwischen sozialistischem Kollektivgeist und den individuellen Wünschen der Menschen deutlich.

Entwurf für Tribünen auf dem Marx-Engels-Platz in Ostberlin anlässlich der «X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten» im Jahr 1973. Die Regenbogenfarben sollten für Vielfalt, Internationalität und Frieden stehen. (Foto: Armin Herrmann)

Der Ausstellungsbereich «Atmosphären gestalten» widmet sich zunächst dem Hotel Thermal in Karlsbad, einem bekannten Kurort in der damaligen Tschechoslowakei. Das Bauwerk wurde von dem Architektenpaar Věra Machoninová und Vladimír Machonin gestaltet. Es entstand in den Jahren zwischen 1964 und 1977. Der am Fluss Teplá liegende Komplex aus einem dreigeschossigen Sockel mit einem Kino für 1200 Besucher*innen und Konferenzsälen sowie einem markanten Hotelturm verbindet einfache geometrische Formen mit einer eigenständigen Innenraumgestaltung. Die Anlage ist zudem in bemerkenswerter Weise in die Landschaft ringsherum integriert. Die Innenarchitektur, für die die Architekten verschiedene Möbel entwarfen, konnte in Zusammenarbeit mit den Künstler*innen René Roubíček, Stanislav Libenský und Jaroslava Brychtová als Gesamtkunstwerk gestaltet werden.

Hotel Thermal, Innenraum der Kongresshalle, um 1977, Věra Machoninová und Vladimír Machonin (Foto: Jaroslav Franta)
Ein Beitrag zur globalen Designgeschichtsschreibung

Die soeben in Ausschnitten beschriebene Ausstellung wird in einem Raum des Kulturforums gezeigt. Zusätzlich sind Archivmaterialien in Durchgangsräumen des Kunstgewerbemuseums zu sehen. Dort werden Materialien zu Designinstitutionen, Ausbildung, Diskursen, Ausstellungen, Netzwerken und Designsammlungen vorgestellt. Sie belegen, dass es während des Kalten Krieges einen kulturellen Austausch zwischen Ost und West gab.

Leider erweist sich die räumliche Trennung als nachteilig: Auch inhaltlich bleiben Hauptausstellung und die Archivmaterialien getrennt. Zudem wurde für die Hauptausstellung konsequent auf eine erklärende Beschriftung der Darstellungen verzichtet. Zu finden ist diese stattdessen über ein Nummerierungssystem im Begleitheft – das ist umständlich und bisweilen mühsam. Doch abgesehen von diesen Wermutstropfen gewährt die Schau einen interessanten Einblick in den internationalen Designdiskurs. Sie macht deutlich, dass es in der sozialistischen Welt keineswegs an Ideen fehlte. Vielmehr gestaltete sich die Verknüpfung zwischen Entwurf, Produktion und politischem Willen schwierig. Viele der Projekte sehen zwar futuristisch aus und wirken vermeintlich für die Serienproduktion konzipiert, doch mussten in Wirklichkeit als Einzelstücke in Handarbeit gefertigt werden. 

Designvorschlag für das Stadtzentrum Tallinns, 1975, Sirje Runge (Lapin) (Zeichnung: © Estnisches Architekturmuseum, Foto: Tiit Veermäe)

Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Abkehr der ehemals sozialistischen Länder des Ostblocks von Russland setzten neue Netzwerke und Diskurse den Rahmen. Deshalb ist es wichtig, auch die verschwundenen Beziehungen zu beleuchten, um heutige Standpunkte verständlich zu machen. Die sehenswerte Ausstellung belegt, dass sowohl in der Breite als auch in der Tiefe noch Themen erschlossen werden können, um in einem Diskurs auf Augenhöhe zu einem neuen Verständnis der globalen Gestaltungsgeschichte zu kommen. 

Zusammengestellt hat die Ausstellung Claudia Banz, die Kuratorin für Design am Kunstgewerbemuseum. Sie arbeitete dabei mit folgenden Co-Kurator*innen zusammen: Polina Baitsym, Alex Bykov, Melinda Farkasdy, Judith Horváth, Helena Huber-Doudová, Silke Ihden-Rothkirch, Karolina Jakaitė, Viera Kleinová, Rostislav Koryčánek, Mari Laanemets, Kai Lobjakas, Florentine Nadolni, Anna Maga, Kaja Muszyńska, Cvetka Požar, Klára Prešnajderová, Alyona Sokolnikova und Koraljka Vlajo. 

Zur Ausstellung ist ein Katalog in englischer Sprache erschienen.

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