Christine Seidler trifft auf Stefan Kurath: «Partikularinteressen bestimmen nach wie vor das Baugeschehen und die Siedlungsentwicklung»
Andrea Wiegelmann
19. maio 2022
Christine Seidler und Stefan Kurath (Fotos: Meret Seidler und Conradin Frei, ZHAW, IUL)
Schweizer Ortskerne verwaisen, viele Gemeinden sind in Finanznot, und der Baumarkt ist überhitzt. Wie können wir dem entgegenwirken? Andrea Wiegelmann spricht mit Christine Seidler und Stefan Kurath über Defizite in Raumplanung und Städtebau.
Stefan Kurath ist Architekt, Urbanist und Professor für Architektur und Städtebau sowie Co-Leiter des Instituts Urban Landscape an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur. Er führt sein eigenes Architekturbüro urbaNplus in Zürich und arbeitet in Graubünden eng mit dem Architekten Ivano Iseppi zusammen. Zuletzt erschien seine Buch «jetzt: die Architektur! Über Gegenwart und Zukunft der architektonischen Praxis».
Christine Seidler ist Professorin am Institut für Bauen im alpinen Raum (IBAR) an der Fachhochschule Graubünden in Chur. Von 2017 bis 2019 war sie Professorin für Urbane Entwicklung und Mobilität sowie Co-Leiterin Dencity am Institut für Siedlungsentwicklung und Infrastruktur an der Berner Fachhochschule. Zudem war sie dort Modulleiterin Städtebau im Rahmen des CAS Areal- und Immobilienentwicklung. Christine Seidler war von 2003 bis 2021 Gemeinderätin der Stadt Zürich und von 2018 bis 2021 Präsidentin der Geschäftsprüfungskommission. Sie war Referentin im Finanzdepartement und Mitglied der Kommission Richtplan/BZO-Revision sowie Motionärin und Urheberin des Kommunalen Siedlungsrichtplans.
Andrea Wiegelmann: Stefan, Christine, ihr unterrichtet und forscht beide und untersucht im Zuge dessen Fragen der Raumplanung, der Siedlungsentwicklung, des Städtebaus, der Landschaftsgestaltung und der Architektur. Angesichts der nach wie vor grassierenden Bauwut und der weiter voranschreitenden Zersiedelung muss man feststellen, etwas läuft grundlegend falsch. Warum haben wir in der Raumplanung versagt?
Christine Seidler: Wir haben kein schlechtes Raumplanungsgesetz, wir haben ein Vollzugsdefizit. Raumplanung wird nicht interdisziplinär gedacht, also zusammen mit Städtebau, Landschaftsplanung und Architektur. Partikularinteressen und das Streben nach möglichst grossen Gewinnen und Renditen bestimmen nach wie vor das Baugeschehen und die Siedlungsentwicklung. Wir haben einen exorbitanten Anlagedruck aufgrund der Niedrigzinspolitik. Die Investition in Immobilien ist für viele und insbesondere für institutionelle Anleger der einzige Ausweg. Die Bautätigkeit ist entkoppelt von der Nachfrage.
Stefan Kurath: Die durch das Raumplanungsgesetz vollzogene Festlegung der Bauzonen auf 15 Jahre soll das Bauen nicht verhindern, sondern die räumliche Entwicklung kontrollieren und kanalisieren. Die Herausforderung, mit dem Anlagedruck umzugehen, betrifft vor allem Gemeinden im Mittelland, in denen etwa die Pensionskassen in den Wohnungsbau investieren, ohne dass es eine reale Nachfrage gibt.
In den peripheren Gemeinden des Alpenraums verlagert sich das Problem auf den Zweitwohnungsbau durch gezielte Umgehung der Zweitwohnungsinitiative. Es genügt nicht, schöne Pläne zu zeichnen und sinnvolle Gesetze zu erlassen, wenn gleichzeitig die Gemeinden Sonderbewilligungen genehmigen, die die planerischen Ziele unterspülen. Die Politikerinnen und Politiker sehen natürlich erst einmal das Geld für ihre Gemeinden. Doch ihr kurzfristiges Denken blendet die Folgekosten aus, beispielsweise die erforderlichen Investitionen in die Infrastruktur, die durch Wohnbauten entstehen. Oder die kalten Betten, die das Dorfleben einfrieren lassen.
Ein weiterer Punkt betrifft die Raumplanungspraxis: Es gibt viel zu wenig Wettbewerb. Alle Gemeinden werden von den immer gleichen Raumplanungsbüros mit den immer gleichen Zonenplänen ausgestattet, es wird zu wenig auf die einzelne Gemeinde eingegangen. Das ist reine Dienstleistungsplanung. Innovation sieht anders aus.
CS: Die mit dem neuen Raumplanungsgesetz 2014 eingeführte Berechnung des Fassungsvermögens stellt einen Paradigmenwechsel dar. Zuvor haben die Gemeinden gesagt, wir wollen wachsen, und die betroffenen Kantone haben es bewilligt. Dass das nun nicht mehr möglich ist, ist bis heute nicht verdaut und führt zu Widerstand. Insbesondere die Gemeinde, die auszonen müssen, sind tief betroffen. Sie haben das Gefühl, man nehme ihnen alle Möglichkeiten und jegliche Entwicklungsperspektiven. Und hier zeigt sich ein Grundproblem in unserem kulturellen Verständnis: Allgemein wird Siedlungsentwicklung mit Wachstum gleichgesetzt. Das ist das Paradigma unserer Zeit. Man hat nie aufgezeigt, wie sich eine Gemeinde auch ohne Wachstum entwickeln kann.
Einzonung ist dann die logische Konsequenz und Wachstumsfalle zugleich. Das sieht man aktuell im Kanton Bern: In Niederbipp etwa bringt der Zuzug die Gemeinde durch die Folgekosten in Finanzierungsnot, und in Huttwil führt der Speckgürtel aus Wohngebieten zu massivem Leerstand im Ortszentrum.
«Allgemein wird Siedlungsentwicklung mit Wachstum gleichgesetzt. Das ist das Paradigma unserer Zeit. Man hat nie aufgezeigt, wie sich eine Gemeinde auch ohne Wachstum entwickeln kann.»
Wobei die Entscheidungsträger in den Gemeinden nicht für die Planung und Umsetzung solcher städtebaulichen Prozesse ausgebildet sind. Dass Fehler passieren, ist somit verständlich. Die Frage ist doch, ob und wie man Gemeinden anders begleiten könnte.
CS: Die Kurzfristigkeit ist unser grosses Problem – in der Raumplanung, im Städtebau, in Wirtschaft und in der Politik. Wir denken und agieren nicht zusammenhängend. Die fachliche Expertise wird oft von politischen Entscheiden übersteuert.
Im Kanton Graubünden ist jede Gemeinde verpflichtet, vor einer Bauzonenrevision ein kommunales räumliches Leitbild zu definieren und eine Strategie zu entwickeln. Eigentlich muss sich jede Stadt und jedes Dorf überlegen: Wer sind wir, was ist unsere Identität? Wo liegen unsere Qualitäten? Wo wollen wir hin?
Die Stadt Zürich versucht genau das mit dem Kommunalen Richtplan, der auf den Verkehrsrichtplan abgestimmt ist, und schreibt gewisse Rahmenbedingungen vor, etwa die Verhinderung von Segregation. Doch mit der Verabschiedung des Richtplans beginnt die eigentliche Arbeit erst. Denn der Plan ist, wenn auch politisch abgestützt, nur eine Absichtserklärung. Er bedeutet noch keinen Städtebau und keine Architektur. In der weiteren Planung gilt es, die formulierten Anforderungen in Projekte zu übersetzen. Dabei stellt sich vor allem die Frage, was aus dem öffentlichen Raum werden soll. Insbesondere in Zürich geht mit der Innenverdichtung seine Überdeterminierung und damit auch «Teilprivatisierung» einher – anschauliche Beispiele sind Oerlikon und die Europaallee. Orte der Aneignung verschwinden derweil.
CS: Dass ein kommunaler Siedlungsrichtplan noch keine Stadtentwicklung ist, ist zweifellos richtig, jedoch ist er ein wichtiges Instrument, denn er vermag seine Funktion dort zu entfalten, wo komplexe räumliche Verflechtungen und Nutzungsansprüche bestehen und andere Planungsinstrumente an ihre Grenzen stossen. Um den Überblick zu wahren, ist eine solche übergeordnete Betrachtung zwingend nötig. Genau dies ist die Pionierleistung beim Kommunalen Richtplan: eine kontextuelle Sichtweise, in der der Mensch, seine Lebensbedingungen und seine Lebensqualität an erster Stelle stehen.
Das Neuartige am Richtplan ist, dass er Zürich ganzheitlich als dynamisches System begreift. Das ist wichtig, weil die Innenentwicklung über Disziplingrenzen hinweg und eben nicht nur aus einer Bau- und Planungsoptik koordiniert werden muss. Sie sollte nicht allein an quantitativen, sondern insbesondere an qualitativen Kriterien ausrichtet werden.
Problematisch ist unterdessen, dass wir in Zürich keine Brachen mehr haben. Du hast das Beispiel Oerlikon genannt, Andrea: Dort wurde viel gebaut, und aus den Restflächen wird ein Park. Ob die Bevölkerung das möchte oder braucht, wurde gar nicht erst abgefragt. Es fehlen die partizipativen Prozesse!
«Urbane räumliche Strukturen sollten so entworfen werden, dass Raum für Aneignung entsteht. Das wäre in Bezug auf Identitätsbildung wirkungsvoller, als Menschen in Planungsprozesse zu involvieren.»
Aber diese bergen in der Praxis ein grosses Frustrationspotenzial. Betroffene gehen oft von ihrer individuellen Problemstellung aus und betrachten die Planung – logischerweise – nicht zusammenhängend.
CS: Partizipative Prozesse müssen zügig abgewickelt werden, und die Rahmenbedingungen müssen stets klar abgesteckt sein. Geschossigkeit ist beispielsweise nicht verhandelbar. Städtebauliche Strukturen sind Sache der Experten. Es muss definiert sein, wie viel Wohnbau, wie viel Gewerbe und welche Infrastruktur es auf dem jeweiligen Areal geben soll. Aber die Art des Wohnens zum Beispiel, also welche Wohnformen geeignet sind und welches zusätzliche Angebot gebraucht wird, kann abgefragt werden. So ist beispielsweise die Kalkbreite in Zürich entstanden. Dabei müssen wir Architektinnen und Architekten uns auch einmal zurücknehmen können. Was wir als schön empfinden, ist dann vielleicht sekundär.
SK: Partizipation ist der «Trend» der letzten zehn Jahre. Dabei ist Partizipation, wie sie in der Praxis eingesetzt wird, eher verhindernd als förderlich. Wenn man die Bevölkerung beispielsweise im Zuge der Innenentwicklung befragt, was es braucht, dann möchte sie schöne Marktplätze, möglichst kleine Bauten und möglichst keine Aufzonungen. Aus dieser «Bestellungsmitwirkung» entstehen Begehrlichkeiten, die nicht erfüllt werden können, weil sie dem gesamtgesellschaftlichen Auftrag zur Innenentwicklung zuwiderlaufen. Wenn im Vorfeld nicht geklärt wurde, was verhandelbar ist, sind Enttäuschungen leider vorprogrammiert.
Die zweite Schwierigkeit, die wir in der Publikation «Räumliche Leitbilder erarbeiten» thematisiert haben, ist die Langfristigkeit der Planungsprozesse gegenüber der Kurzfristigkeit individueller Bedürfnisse. Man kann ein Mitwirkungsprogramm perfekt aufgleisen, aber wenn das Projekt dann vier Jahre später realisiert ist, sind die Ansprüche der Wohnbevölkerung bereits andere.
Viel wichtiger ist daher die Möglichkeit der Aneignung von öffentlichem Raum – unmittelbar und kurzfristig. Beim Zürcher Hardtturm-Areal schafft die Öffnung unmittelbare Gemeinschafts- und Gesellschaftsbildung. Es wäre viel mehr möglich, wenn die Gestaltung öffentlicher Räume nicht völlig überdeterminiert wäre. Das haben wir im Forschungsprojekt «Figurationen von Öffentlichkeit» festgestellt. Urbane räumliche Strukturen sollten so entworfen werden, dass Raum für Aneignung entsteht. Das wäre in Bezug auf Identitätsbildung wirkungsvoller, als Menschen in Planungsprozesse zu involvieren.
Figurationen von Öffentlichkeit. Herausforderungen im Denken und Gestalten von öffentlichen Räumen
Philippe Koch, Stefan Kurath, Simon Mühlebach, ZHAW Institut Urban Landscape (Hrsg.)
195 × 314 Millimeter
128 Páginas
160 Illustrations
Fadengeheftete Broschur
ISBN 9783038630654
Triest
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Was hat die Stadt, was haben die Investoren von dieser Zwischennutzung? Warum sollten sie dem zustimmen? Immerhin besteht die Gefahr, dass die Nutzenden nicht mehr wegwollen.
CS: Das sehe ich nicht, schliesslich kann man befristete Zwischennutzungsverträge abschliessen. Fatal ist vielmehr, dass auch dieses Format kommerzialisiert wird. Dabei ist die Zwischennutzung als Instrument in der Stadtentwicklung zur Identitätsbildung essenziell. In einer Stadt wie Zürich müsste immer eine gewisse Anzahl von Brachen zur Verfügung stehen.
SK: Dass dem nicht so ist, ist genau das Problem beim Zürcher Hardtturm-Areal. Man kann den Nutzenden keine Alternative anbieten, deshalb machen sie Opposition gegen den Stadionneubau. Wenn wir die Bevölkerung an der Stadtentwicklung beteiligen wollen, dann sollten wir den Menschen – unter Festlegung von Rahmenbedingungen und zeitlich befristet – Flächen anbieten.
CS: Wir nutzen in Zürich auch das Potenzial der Erdgeschossflächen nicht. Wir haben aktuell viel Leerstand, denn der Handel ist unter Druck. Es gibt fast nur noch grosse Player und Monokulturen im Detailhandel. Man könnte die Erdgeschossnutzungen über die Mieteinnahmen der Wohngeschosse subventionieren.
Das macht kein Investor und keine Pensionskasse freiwillig. Aus deren Perspektive der Gewinnmaximierung wäre das schlicht nicht zielführend.
CS: Deshalb muss die mögliche Mehrausnutzung, die beispielsweise die Gestaltungspläne erlauben, an die Qualität geknüpft sein und an Anforderungen wie eben, dass die Erdgeschossnutzungen aus den Mieteinnahmen quersubventioniert werden.
«Ich behaupte, dass wir wissen, wie wir richtig planen müssen. Und bis die Planung steht, läuft auch alles gut. Aber wir begleiten die Umsetzung nicht.»
«Ein Projekt vom Papier in den gebauten Raum zu übersetzen bedeutet, zu antizipieren, zu antizipieren und noch einmal zu antizipieren. Das ist ein Planungsverständnis, das heute grundlegend fehlt.»
SK: Leerstand ist heute keine Belastung. Genau das müsst er jedoch sein, damit Bauherren und Investoren aktiv zur Quartiers- und Stadtentwicklung beitragen.
Ich möchte noch einmal auf die Frage nach den Schwierigkeiten in den Raumplanungsprozessen zurückkommen. Ich behaupte, dass wir wissen, wie wir richtig planen müssen. Und bis die Planung steht, läuft auch alles gut. Aber wir begleiten die Umsetzung nicht. Ein positives Gegenbeispiel ist die Entwicklung von Lausanne Ouest. Dort wurde die laufende Planung von Ariane Widmer begleitet. Das ist ausschlaggebend. Wenn sich die Bedürfnisse der Investierenden ändern, muss das die Stadtplanung erfahren und reagieren, sonst gibt es Baugesuche und Bewilligungen, die von der ursprünglichen Planung abweichen. Das ist genau das, was seit den 1980er-Jahren in den Gemeinden passiert ist. Die Planungsziele wurden völlig verwässert. Die Phase, in der das Papier zu Raum wird, wird planerisch sträflich vernachlässigt. Bei einer fachlichen Begleitung wie in Lausanne Ouest ist es möglich, die unterschiedlichen Akteure einzubinden und abzuholen. Dann kann auch die Mehrwertabschöpfung richtig eingesetzt werden. Die Verknüpfung langfristiger Planungsprozesse mit der Echtzeit der Umsetzung ist entscheidend.
CS: Ein Projekt vom Papier in den gebauten Raum zu übersetzen bedeutet, zu antizipieren, zu antizipieren und noch einmal zu antizipieren. Das ist ein Planungsverständnis, das heute grundlegend fehlt. Partizipation ist für mich, wenn man über den eigenen Tellerrand hinausschaut und beginnt, in Zusammenhängen zu denken. Der Fokus liegt nicht auf der Erfüllung eines Planungsziels, sondern auf dem Prozess. Wie das gehen kann, möchte ich in meinem Buch «Von Donuts, Berlinern und einer anderen Raumplanung» vermitteln. Es wird ein umfangreiches Projekt werden, für dessen Finanzierung ich gemeinsam mit dem Triest Verlag und Mirjam Fischer gerade ein Crowdfunding gestartet habe.
jetzt: die architektur! Über Gegenwart und Zukunft der architektonischen Praxis
Stefan Kurath
180 × 270 Millimeter
256 Páginas
55 Illustrations
Broschiert
ISBN 9783038602422
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Und es braucht eine Person oder Anlaufstelle, die diese Begleitung übernimmt. Wie sollen kleinere Gemeinden das finanzieren?
CS: Wieder sind wir bei der entscheidenden Frage nach dem Planungsverständnis: Investieren wir in den Planungsprozess und damit in die Entwicklung insgesamt oder nur in den einzelnen Bau? Die Investition in eine Person mag zunächst hoch erscheinen, doch sie schafft Mehrwert.
SK: Wie man das machen könnte, dafür gibt es einerseits in Metropolitanregionen Einrichtungen wie RZU, die diesbezüglich beraten und auch begleiten, und dann gibt es die kleinen Gemeinden – in Graubünden etwa Vrin, Valendas oder die Gemeinde Surses mit Riom und Mulegns –, bei denen es ums Überleben geht. Dort engagieren sich die verbleibenden Einwohnerinnen und Einwohner aus der Not heraus. Dabei entstehen mitunter kreative Ideen, und die Raumplanung und die Architektinnen und Architekten schaffen Rahmenbedingungen dazu. Der Föderalismus ermöglicht es, dass jede Gemeinde handlungsfähig ist, wenn ihre Vorhaben gut sind, fachlich sauber unterstützt werden und die Bevölkerung und der Kanton dahinterstehen. Da wird es plötzlich möglich, auf dem Julierpass einen roten Turm in eine fantastische Gebirgslandschaft zu stellen und Kulturveranstaltungen abzuhalten, wie die Initiative Origen zeigt.
Die Prozesse, die ihr beschreibt, benötigen Zeit. Doch das scheint aktuell ein Problem zu sein. Die Umsetzung der Planungen wird – zumindest in Zürich – mit einer wahnwitzigen Geschwindigkeit vorangetrieben. Das raubt Gestaltungsspielraum, und wir reissen auch deshalb zu viel ab, weil wir uns nicht die Zeit nehmen, den Bestand zu analysieren. Derzeit passiert das etwa in Schwamendingen.
SK: Seit den 1990er-Jahren wird zu viel gebaut und zu wenig gedacht. Darum können die Zonen nicht genug zurück gezont werden – das regt vielleicht zum Denken an. Einerseits. Andererseits aber ist es wichtig, dass es zügig vorangeht, wenn gute Ideen und Projekte vorhanden sind. In solchen Fällen kann man nicht auf eine Zonenplananpassung warten, die Jahre dauert. Die heutige Planung ist viel zu langsam.
Eine effektive Raumplanung müsste schlechte Ideen verhindern und die guten befördern. Das wäre toll. Dazu braucht es eine andere, frühere und kontinuierliche Zusammenarbeit. Projekte können nicht erst dann eingeben werden, wenn es um die Baubewilligung geht, sondern man muss vom ersten Schritt an miteinander reden. Es sollte eine Vorgesprächspflicht geschaffen werden. Der Vorteil solcher Gespräche wäre, dass Bauherren, Verwaltungen, Betroffene, Nachbarn und Architektinnen noch offen sind. Sie hätten dann noch keine fixe Vorstellung, kein fertiges Projekt. Dieses würde erst aus diesen Rahmenbedingungen entstehen. Erst dieser Prozess würde ermöglichen, dass etwas Gutes entsteht, etwas, das unterschiedlichste Bedürfnisse aufnimmt. Innenentwicklung lässt sich gar nicht anders kanalisieren. Jeder Einzelfall ist ein Experiment, und es braucht daher massgeschneiderte Rahmenbedingungen und keine Planung nach dem Giesskannenprinzip.
CS: In Schwamendingen sollte ursprünglich nicht aufgezont werden, bevor nicht der Mehrwertausgleich geregelt ist. Das ist nicht passiert. Jetzt haben wir dort genau die Segregationsprozesse, die wir nicht wollten.
SK: Die ursprüngliche Planung von Albert Heinrich Steiner (1905–1996) wird dort heute völlig negiert. Dabei kann sein Städtebau unter Erhalt gewisser ortsbildprägender Strukturen durchaus weiterentwickelt und zudem gut nachverdichtet werden. Man muss nicht permanent alles abbrechen und zum doppelten Preis aber mit gleicher Anzahl Wohnungen wieder aufstellen. Man kann gezielt verdichten und bestehende identitätsstiftende Strukturen wie auch Bausubstanz bewahren. So könnte auch günstiger Wohnraum erhalten werden, um Segregation zu verhindern.
CS: Richtig, Stefan, Innenentwicklung heisst auch Sanierung. Ich fordere für Arealüberbauungen bis zu zwei Drittel Neubau und ein Drittel Bestand! Damit würden wir soziale Nachhaltigkeit bis zu einem gewissen Grad gewährleisten. Wieso kann Innenentwicklung nicht ein Mix aus Sanierungen, Aufstockungen und Ersatzneubauten sein?