Zurück in die Zukunft
Manuel Pestalozzi
26. novembro 2020
Den Buchdeckel schmückt eine Collage aus Charles Jencks’ Buch «Architecture 2000. Predictions and Methods», das 1971 erschienen ist. (Collage: Charles Jencks)
Es ist wichtig, dass sich Architekturtheorie und -geschichte mit der Digitalisierung unserer Disziplin auseinandersetzen. Georg Vrachliotis’ Rückblick auf die Kybernetik, die in der Architektur in den 1950er- und 1960er-Jahren Furore machte, ist neu aufgelegt worden. Das lesenswerte Buch «Geregelte Verhältnisse. Architektur und technisches Denken in der Epoche der Kybernetik» bleibt aktuell.
Kybernetik ist nach ihrem Begründer Norbert Wiener die Wissenschaft von der Steuerung und Regelung von Maschinen und deren Analogie zur Handlungsweise von lebenden und sozialen Organisationen. Als etablierte Wissenschaft existiert die Kybernetik seit den späteren 1940er-Jahren, der englische Wortteil Cyber leitet sich davon ab. Bald tauchte der Begriff in Verbindung mit Grossrechnern auf.
An der Architekturwelt gingen diese Entwicklungen nicht spurlos vorüber. «Architekten sahen sich mit einem neuen operativen Möglichkeitsraum aus technischen Systemen, Verfahren und Prozessen konfrontiert», schreibt der Achitekturhistoriker Georg Vrachliotis, Dekan der Fakultät für Architektur und Professor für Architekturtheorie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), in seinem Buch «Geregelte Verhältnisse. Architektur und technisches Denken in der Epoche der Kybernetik».
1968 fand an der Yale School of Art and Architecture die Podiumsdiskussion «The Past and Future of Design by Computer» statt. Es beteiligten sich Louis Kahn, Charles Moore, Warren McCulloch und Steven A. Coons (in Leserichtung). (Fotos: Yale School of Art and Architecture)
Kurze EuphorieDies war in den 1960er-Jahren an den Architekturschulen deutlich zu spüren. Man hoffte, die Kybernetik könne zur neuen ordnenden Leitidee in Theorie und Praxis werden. An der ETH Zürich zum Beispiel wurde eine Gastprofessur für Kybernetik eingerichtet. Man ging davon aus, dass diese neue Wissenschaft sowohl den kreativ-künstlerischen als auch den technisch-wissenschaftlichen Teil der Architektur erfassen und «das Interdisziplinäre» ansprechen werde. Planungsfragen wurden in «Schaltdiagramme» übersetzt.
Die Kybernetik schuf damals, so erklärt Georg Vrachliotis, «einen neuen technowissenschaftlichen Blickwinkel auf die Architektur, durch den sich nicht zuletzt auch das architektonische Denken in Theorie und Praxis radikal veränderte». An den Architekturfakultäten war die Präsenz dieser Wissenschaft allerdings nur von kurzer Dauer. Mit der Ölkrise erlosch das Interesse an ihr als Denk- und Organisationsmodell für Gebäude und ganze Städte. «Die theoretischen Konzepte zu Automation und Kommunikationstechnik passten Ende der 1970er-Jahre nicht mehr zu den praxisorientierten Anwendungsansprüchen in Universität und Industrie», schreibt Vrachliotis, «statt Lehre einer allgemeinen Theorie des Modellierens und Regelns wurde ein Fach zur Beherrschung des wesentlichen Instruments einer ‹technisch-wissenschaftlichen Revolution› – des Computers – gegründet».
Er spricht deshalb von einem «kurzlebigen Kapitel der Architekturgeschichte», das bisher buchstäblich übersehen worden sei. Mit seinem Buch möchte er dieses ins rechte Licht rücken. «Geregelte Verhältnisse» entstand zwischen 2006 und 2009 am Departement Architektur der ETH Zürich. Nun erscheint es in zweiter Auflage. Dies deutet auf ein neues Interesse an der Kybernetik hin, das wohl von der immer schneller voranschreitenden Digitalisierung im Bau- und Planungsbereich befeuert wird. «Es mag vielleicht verwundern», schreibt Vrachliotis in der Dankadresse zur zweiten Auflage, «doch noch immer dienen mir einzelne Episoden dieser Arbeit als Ausgangspunkte, um aktuelle Entwicklungen einer zunehmend datenbasierten Gesellschaft in der Geschichte zu verankern».
Die Architecture Machine Group des Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickelte beispielsweise den «MIT 3D Ball», mit dem man dreidimensionale Modelle auf dem Bildschirm durch intuitive Gesten drehen konnte. (Foto: Nicholas Negroponte / Architecture Machine Group)
Kybernetik im RückblickDas Buch ist in sieben Teile gegliedert. Es beginnt mit den Grundlagen des kybernetischen Denkens. Norbert Wiener entwickelte ein kybernetisches Stadtmodell, das unter Berücksichtigung der Möglichkeit von Angriffen mit Atomwaffen konzipiert wurde. Das Buch widmet ihm ein ganzes Kapitel. Vrachliotis stellt es in den Kontext weiterer Arbeiten – ein Entwurf von Ludwig Hilberseimer etwa, Arbeiten japanischer Metabolisten wie Kenzo Tange oder eine städtebauliche Studie von Fritz Haller. Ein weiterer Abschnitt leuchtet die Schnittstellen von Architektur, industriellem Bauen und der Automation aus.
In den hinteren Abschnitten nähert sich der Autor der Verbindung zwischen Kybernetik und Ästhetik an. Zentrale Figuren in «Ästhetik, Revolte und Kalküle» sind Max Bense, ein deutscher Philosoph, der von 1953 bis 1958 an der Hochschule für Gestaltung Ulm wirkte, und der Architekt Manfred Kiemle, der 1967 an der Technischen Universität Berlin zum Thema eine Doktorarbeit verfasste. «Swinging Cybernetics» erstellt einen Link zur Kultur des Aufbruchs in Grossbritannien und zu Avantgardisten wie Archigram.
Die letzten drei Kapitel schliesslich, «Zeichenmaschinen und Maschinenzeichnen», «Individualisierungssysteme» und «die Rückkehr des Materials», wenden sich wieder mehr der Systematik, der Technik und insbesondere dem Computer zu. Sie dokumentieren den Niedergang der Kybernetik an den Architekturfakultäten, der mit einem schwindenden Interesse an der durchgängigen Standardisierung und Industrialisierung im Bauwesen einherging.
Seit den 1960er-Jahren ist die Rechenleistung von Computern in atemberaubender Manier gestiegen und der Platzbedarf parallel enorm zusammengeschrumpft. Dies hat unser Leben umfassenden verändert und ist die Grundlage der Digitalisierung. Aus Architekturbüros sind Computer mittlerweile seit Jahrzehnten nicht mehr wegzudenken. Allerdings bleiben sie oft Werkzeuge, die hergebrachte grafische und kommunikative Konventionen digital nachvollzieht. Andererseits sind seit den 2000er-Jahren unter anderem parametrische Entwurfswerkzeuge verfügbar, mit denen Formen vereinfacht gesagt programmiert werden. Algorithmen werden so Teil des Entwurfsprozesses beziehungsweise der Genese von Formen. Während manche hierin eine grosse Chance sehen, sind gerade hierzulande viele sehr skeptisch. Bedienen wir uns eines weiteren Werkzeugs oder überäussern wir der Maschine den kreativen Prozess? Werden wir gar überflüssig? Vrachliotis’ Rückblick auf die Kybernetik regt zur Auseinandersetzung mit solchen Grundsatzfragen an. Das macht die Arbeit zu einer empfehlenswerten Lektüre – zumal es bisher noch nicht allzu viele architekturtheoretische beziehungsweise -historische Auseinandersetzungen mit der Thematik gibt.
Geregelte Verhältnisse: Architektur und technisches Denken in der Epoche der Kybernetik
Georg Vrachliotis
190 x 140 Millimeter
256 Páginas
100 Illustrations
Broschur
ISBN 9783035615616
Birkhäuser
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