Die Ästhetik des Rohen
Lanzrein+Partner Architekten
30. julho 2020
Foyer mit Holzeinbauten (Foto: Christian Helmle)
Lanzrein+Partner Architekten haben in eine Industriehalle von Heinz Isler ein Begegnungszentrum eingebaut. Projektleiter Thomas Baumann, Bruno Stettler und Daniel C. Suter erklären uns, worin dabei die Herausforderungen lagen.
Worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?
Die Westhalle in Thun wurde vom bekannten Schweizer Bauingenieur Heinz Isler (1926–2009) gestaltet, der zu den weltweit wichtigsten Pionieren auf dem Gebiet der Konstruktion von Betonschalen zählt. Sie ist ein wertvolles Baudenkmal und steht unter Schutz. Wir mussten eine Lösung entwickeln, die den Bestand respektiert und unmittelbar spürbar lässt.
Der hohe Nutzungsdruck erlaubte nicht, in der Gesamtfläche eingeschossig zu bleiben. Dies wiederum stellte uns vor die Herausforderung, bei 5 Metern Deckenrandhöhe ansprechende und grosszügig wirkende Räume auf zwei Geschossen zu realisieren. Weiter ist der grosse Kostendruck zu erwähnen – wir waren aufs Äusserste gefordert, sehr vielen Nutzungen bei geringsten Kosten Raum zu bieten und trotzdem einen gestalterisch qualitätsvollen Beitrag zu leisten.
Foyer mit Blick in einen Multifunktionsraum (Foto: Christian Helmle)
Welche Inspirationen liegen diesem Projekt zugrunde?
Zum einen hat uns das Rohe und Verbrauchte der Bestandsoberflächen inspiriert, fast ausschliesslich rohe, unbehandelte und günstigste Baumaterialien zu verwenden. Dies wurde bis ins Detail durchgehalten: So wurden beispielsweise die neuen, sichtbar belassenen Unterlagsböden bewusst unperfekt geölt und das Fermacell zum Brandschutz unvollständig gestrichen, um nicht mit «cleanen» Flächen die Raumstimmung des Industriebaus zu kompromittieren. Dies half auch, die ambitionierten Kostenvorgaben einzuhalten. Zum anderen war uns wichtig, die Buckelschalen Islers in Wirkung und Ausdruck weiter als raumbestimmendes Element erlebbar zu lassen – ein wichtiger Grundsatz war, nirgends an die Schalen zu bauen.
Die hohen Nutzungsanforderungen der Bauherrschaft zusammen mit der Vorgabe, möglichst günstig zu bauen, haben uns immer wieder herausgefordert und zu unkonventionellem Denken und Bauen angeregt. Dies führte unter anderem zu der – aus statischen wie gestalterischen Gründen entwickelten – Form der schiffsrumpfartigen Dächer der Büroboxen im Foyer oder dem Entwurf der Kronleuchter im Saal, welche zugleich Stimmungslicht auf wählbarer Höhe und flexible Verdunkelungsmöglichkeiten sind. Beides wurde mit Konstruktionsholz aus Fichte industrieller Qualität realisiert und einzig durch die präzise Detaillierung veredelt.
Dieser Multifunktionsraum kann mal als Büro, mal als Kinderhort dienen. Die Einbauten bestehen aus Fichte und Tanne, Anhydrit, OSB-Platten sowie Fermacell. Die Objektleuchten kosteten jeweils nur CHF 24. (Foto: Christian Helmle)
Foto: Christian Helmle
Gab es bedeutende Projektänderungen vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Bauwerk?
Es fand eine fortwährende Projektoptimierung in überdurchschnittlicher Kadenz statt, ohne die die erreichte gestalterische Qualität zu solch tiefen Kosten nicht hätte umgesetzt werden können. Die wesentlichste Projektänderung ist vielleicht, dass während der Ausführung noch die Anforderung der Erdbebenertüchtigung hinzu kamen. Dank herausragender Arbeit der beiden Thuner Büros Theiler Ingenieure und Indermühle Holzbauingenieure konnte auch hier aus der Not eine Tugend gemacht und die vier Buckelschalen-Hallen mittels Ausbildung von zwei ohnehin geplanten Trennwänden als steifen Holzständerkonstruktionen praktisch kostenneutral erdbebenertüchtigt werden.
Die Westhalle ist unser dritter Bau, bei dem wir mit roh belassenen Materialien gearbeitet haben. Es wäre aber falsch, daraus eine dogmatische Haltung herauszulesen – zufälligerweise hatten wir in kurzer Reihung Bauaufgaben, bei welchen sich trotz aller Unterschiedlichkeit rohe Materialien als tragfähigste Antwort auf die jeweiligen Fragestellungen herausgestellt haben.
Saal mit Empore, Kronleuchter und bestehendem Oberlicht (Foto: Christian Helmle)
Der Saal verfügt über 600 Sitz- und 1'000 Stehplätzen unter zwei Isler-Schalen zu je 14 mal 20 Metern. (Foto: Christian Helmle)
Beeinflussten aktuelle energetische, konstruktive oder gestalterische Tendenzen das Projekt?
Gerade im Bestand und unter Bestandsschutz sind die gesetzlichen Hürden oft unvernünftig hoch, wenn tragfähige und vernünftige Low-Tech-Lösungen realisiert werden sollen. Dies zeigt, dass die aktuellen Gesetze und Verordnungen gerade in Bezug auf die energetischen Anforderungen zu wenig Spielraum lassen und zu einseitig ausgerichtet sind. So wird beispielsweise die graue Energie, welche im Umgang mit dem Bestand eine wesentliche Rolle spielt, nicht in die Überlegungen hinsichtlich der Gesetzgebung mit einbezogen.
Der Erfolg bemisst sich an den grosszügigen Räumen trotz der eigentlich ungenügenden Raumhöhen sowie der präzisen Detaillierung, welche aus gewöhnlichem, rohem und in Bezug auf die Oberflächenqualität oft minderwertigem Baumaterial – Konstruktionsholz Fichte, Fermacell, OSB-Platten, Anhydrit – etwas Besonderes werden lässt.
Situation
Grundriss Erdgeschoss
Grundriss Obergeschoss
Schnitt durch Saal und Foyer
Ausbau Westhalle
Standort
Industriestrasse 5, 3600 Thun
Nutzung
Begegnungszentrum mit Sozialprojekt (Arbeitsintegration), Büros, kirchliche, kulturelle und festliche Veranstaltungen
Auftragsart
Direktauftrag
Bauherrschaft
Verein Westhalle, Thun
Architektur
Lanzrein+Partner Architekten AG, Thun
Daniel C. Suter, Bruno Stettler, Thomas Baumann (Projektleitung), Rachel Klein, Nik Hadorn
Fachplaner
Bauingenieur: Theiler Ingenieure AG, Thun
Holzbauingenieur: Indermühle Bauingenieure GmbH, Thun
Eventproduction Service Dan Zürcher, Thun
Jahr der Fertigstellung
2019
Gesamtkosten BKP 1–9 CHF
1,5 Mio.
Gebäudekosten BKP 2
CHF 1,0 Mio.
Gebäudevolumen
7700 m3 nach SIA 416
Kubikmeterpreis
CHF 135
Massgeblich beteiligte Unternehmer
Holzbau: Gfeller Holzbau GmbH, Worb
Bar: Hossmann Küchen AG, Gerzensee
Schreinerarbeiten: Peter Holzbau AG, Blumenstein
Unterlagsböden: Luchs Bodenbeläge AG, Hofstetten/Brienz
Fotos
Christian Helmle, Thun