Margit Sichrovsky und Kim Le Roux: «Zirkuläres Bauen funktioniert nicht ohne eine zirkuläre Wirtschaft. Wir brauchen neue Geschäftsmodelle»

Elias Baumgarten
18. augustus 2022
Kim Le Roux (links) und Margit Sichrovsky (Foto: Hannes Wiedemann)

Margit, Kim, ich nehme eure Wahlheimat Berlin als eine der architektonisch, gesellschaftlich und kulturell interessantesten Metropolen Europas wahr. Die Herausforderungen dort sind enorm: Der Bedarf an neuen Wohnungen ist gross, die Mieten sind für viele nicht mehr leistbar. Gleichzeitig soll klimaschonend und im Idealfall möglichst wenig neu gebaut werden. Wie bewertet ihr die Entwicklung Berlins?

Margit Sichrovsky: In unserer Stadt besteht eine grosse Diskrepanz zwischen sehr innovativen Projekten einerseits und viel mässiger Architektur andererseits. Der Senat hat tolle Initiativen zum zirkulären Bauen auf den Weg gebracht. Der politische Wille, ökologisch und sozial nachhaltig zu bauen, ist vorhanden. Doch zugleich stagniert Berlin architektonisch: Viele Neubauten sind langweilig, bisweilen uninspiriert und auch billig umgesetzt. Projektentwickler stampfen überall neue Häuser aus dem Boden, die gestalterisch wenig innovativ sind. Ihre Grundrisse sind in althergebrachten Vorstellungen verhaftet, den Wandel unserer Gesellschaft spiegeln sie kaum wider. Und diese Projekte machen leider die Masse der Neubauten aus.

Kim Le Roux: Wir haben Baugruppen und Initiativen, die Leuchtturmprojekte hervorbringen. In den letzten Jahren sind in Berlin richtungsweisende Holzbauten, aber auch innovative Quartiersentwicklungen entstanden, zudem wurden kooperative Prozesse gestaltet – man denke nur an das Haus der Statistik oder das Dragonerareal. Ausserdem werden neue Wohnformen erprobt, und es gibt spannende Nachbarschaften, zum Beispiel in der Wohnanlage an der Briesestrasse von EM2N. Auch wird mit verschiedenen Projekten versucht, die Kreislaufwirtschaft in Gang zu bringen, etwa mit dem Impact Hub Berlin auf dem Gelände der ehemaligen Kindl-Brauerei in Neukölln. Impact Hub Berlin ist ein Co-Working-Space für Unternehmen, die auf die Kreislaufwirtschaft, nachhaltige Lebensmittel und grüne Technologie spezialisiert sind, sowie für sozial orientierte Organisationen. Federführend bei diesem Umbauprojekt ist der gemeinnützige Bauträger TRNSFRM, der nach den Entwürfen von Die Zusammenarbeiter die Sanierung und Aufstockung des Bestandsgebäudes durchführt. Nach den Prinzipien des nachhaltigen und zirkulären Bauens haben wir in einem gemeinschaftlich-kooperativen Prozess mit dem Auftraggeber Impact Hub Berlin und allen Projektbeteiligten den Innenausbau gestaltet und umgesetzt. Wir arbeiten mit gebrauchten Bauteilen und recycelten Materialien und entwickeln Strukturen, die reversibel sind und sich in der Zukunft an neue Nutzungsanforderungen anpassen lassen. Die erste Bauphase wurde vor Kurzem abgeschlossen, und die ersten Nutzer*innen haben ihre Büros bezogen.

Welche Erfahrungen habt ihr dabei gesammelt? In der Schweiz gibt es bereits Bauteilbörsen, die die Wiederverwendung von Elementen und Materialien erleichtern sollen, zum Beispiel auf dem Dreispitz in Basel. Steht euch Ähnliches auch in Berlin zur Verfügung?

KLR: Ja, beispielsweise Concular, die sich von der Bestandserfassung bis zur Vermittlung und dem Erstellen von Materialpässen für die Wiederverwendung von Bauteilen und Materialien einsetzen. Aber wir haben uns auch selbst auf die Suche nach gebrauchten Bauteilen gemacht und dabei viel gelernt. Zum Beispiel eignet sich die lineare Planung entlang der Leistungsphasen 1 bis 9 für ein solches Projekt weniger. Es braucht mehr Flexibilität im Designprozess: Der Entwurf muss angepasst werden, je nachdem, welche Materialien man gerade auftreiben kann. Wir setzen zum Beispiel auf ein kleines Raster, nachdem wir erkannt haben, dass Holzplattenwerkstoffe zwar in grossen Mengen, aber nur in kleinen Abmessungen zur Verfügung stehen.

MS: Bauteilbörsen sollten nur ein Zwischenschritt sein. Zirkuläres Bauen funktioniert nicht ohne eine zirkuläre Wirtschaft. Wir brauchen neue Geschäftsmodelle. Die Hersteller müssen künftig den ganzen Kreislauf mitdenken. Sie sollten ihre Produkte einsammeln, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, aufbereiten und dann von Neuem anbieten. Einige wenige Firmen haben diese Haltung bereits für sich angenommen: Beim Impact Hub Berlin haben wir beispielsweise mit einer Glaserei gearbeitet, die Altglas ausgebaut, neu zugeschnitten und wieder eingebaut hat.

Impact Hub Berlin im CRCLR-Haus (Foto: Studio Bowie)
Foto: Studio Bowie

Was bedeutet es für die Gestaltung, gebrauchte Bauteile zu verwenden? Entwickelt sich dadurch eine neue Architektursprache?

MS: Architektur ist grundsätzlich in einem ständigen Wandel begriffen, sie verändert sich fortwährend. Wir glauben tatsächlich, dass es durch das Recycling zu ästhetischen Veränderungen kommen wird. Das bedeutet aber nicht, dass Gebäude künftig secondhand und used aussehen müssen. Denn je besser die Logistik, je mehr alte Teile also verfügbar sind, desto grösser werden die Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten sein. Wir finden interessant, dass gebrauchte Bauteile eine Geschichte haben, die man neu aktivieren kann. Vielleicht findet man sogar Elemente, die vormals am selben Ort verbaut waren. So lässt sich eine stark identitätsstiftende Architektur entwickeln. Das ist wichtig, denn viele Menschen haben eine starke Sehnsucht nach Halt und Verwurzelung.

KLR: Während wir die Innenräume des Impact Hub Berlin entworfen haben, waren die Verbindungspunkte für uns ein wichtiges Thema. Schlussendlich haben wir Details entwickelt, bei denen die Verbindungen sehr deutlich hervortreten. Man kann vielfach sofort erkennen, wo Teile zusammengeschraubt sind. Den Nutzer*innen ist so klar, wie sie selbst Änderungen vornehmen oder Elemente austauschen können. Das erhöht ihre Teilhabe an der Architektur. Und tatsächlich haben die Nutzer*innen der ersten Bauphase bereits Anpassungen vorgenommen und beispielsweise Teile für eine bessere Akustik hinzugefügt.

Foto: Studio Bowie
Foto: Studio Bowie

Lasst uns noch einmal auf die Entwicklung Berlins zurückkommen. Zuletzt wurden dort wichtige baupolitische Weichenstellungen vorgenommen. In der Schweiz haben wir besonders die heftige Auseinandersetzung um Petra Kahlfeldt mitbekommen. Es gab einen offenen Brief an Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD), in dem eine unabhängige Berufskommission gefordert wurde. Hunderte von Architekt*innen haben ihn unterschrieben, Entwickler, Politiker*innen, Künstler*innen und Persönlichkeiten aus dem Kulturbereich. Auch du hast unterzeichnet, Margit. Warum?

MS: Das war schon eine sehr emotionale Debatte. Es ging ein grosser Aufschrei durch die Kolleg*innenschaft. Kim und ich haben Regula Lüscher kennen und schätzen gelernt. Sie hat frischen Wind nach Berlin gebracht. Petra Kahlfeldt ist Teil der alten Garde, die vor Regula Lüscher unter Hans Stimmann für die bauliche Entwicklung der Stadt verantwortlich war. Ich denke, dass ihre Berufung gerade die jüngeren Berliner Architekt*innen enttäuscht hat, denn Stimmann und seine einstigen Mitstreiter*innen wie eben Petra Kahlfeldt steht für ein ganz anderes Berlin als jenes, das wir uns vorstellen. Ihr Ziel ist die Wiederherstellung einer historischen Version der Stadt. Wir dagegen interessieren uns für ökologische und soziale Zukunftsfragen, nicht für eine sentimental verklärte Vergangenheit. Wir können in Berlin keinen Backlash gebrauchen.

Zwar ist Petra Kahlfeldt noch viel zu kurz im Amt, um entscheidende Impulse zu setzen, doch die hochemotionale Debatte ist konstruktiver geworden. Wie seht ihr sie heute?

MS: Wir nehmen Petra Kahlfeldt mittlerweile als offener wahr. Sie stellt sich kritischen Fragen. Der BDA Berlin hat die Stadtgespräche initiiert, eine dreiteilige öffentliche Gesprächsreihe mit ihr. Ich sehe Potenzial in ihrem Willen, den Bestand zu erhalten. Wenn sich das nicht nur auf Baudenkmäler bezieht, sondern auch auf andere Gebäude, wäre das im Sinne des nachhaltigen Bauens positiv zu bewerten. Wir fragen uns immer zuerst, was wir mit dem Bestand anfangen könnten, bevor wir neu bauen. Nun hoffen wir, Petra Kahlfeldt könnte das ähnlich sehen. Doch ob tatsächlich zukunftsweisende Lösungen für den Bestand gefunden werden können, muss sich erst erweisen. Kann Petra Kahlfeldt dafür eine gute Umgebung schaffen oder werden sich die konservativen Kreise am Ende durchsetzen? 

Was würdet ihr euch von Petra Kahlfeldt wünschen?

KLR: Es gibt momentan ein grosses Potenzial, Stadt neu und nachhaltig zu denken. In Bezug auf den Klimawandel ist das unbedingt notwendig. Städte können und müssen hier eine entscheidende Rolle spielen. Was Berlin ausmacht, ist das Engagement der Bevölkerung und deren Bereitschaft, auf die Strasse zu gehen, zum Beispiel, um sich gegen Investorenarchitektur zur Wehr zu setzen. Es gibt einen grossen Willen, Nachbarschaften zu schaffen und sich einzubringen. Gleichzeitig haben wir – wie in vielen Grossstädten Europas – Probleme mit Vereinsamung und Identitätsverlust. Hier könnte Petra Kahlfeldt ansetzen und die unterschiedlichen Nachbarschaften stärken. Sie könnte Baugruppen, Kollektive und Genossenschaften unterstützen und ihnen ermöglichen, zeitgemässe Architektur zu schaffen.

MS: Wichtig ist es, den Bestand zu erhalten und dabei innovative Lösungen zu finden. Das kann auch gerne komplex sein, wie beispielsweise Bürogebäude in Wohnhäuser umzuwandeln oder neue hybride Nutzungen zu schaffen. Hier fehlen aber leider oft die rechtlichen Rahmenbedingungen.

KLR: Und warum müssen wir immer gleich die finale Lösung haben? Warum können wir nicht unterschiedliche Ideen testen? Im Bergmannkiez in Kreuzberg und an der Friedrichstrasse in Mitte war der Testlauf zur Verkehrsberuhigung doch jeweils auch erfolgreich.

Foto: Studio Bowie
Foto: Studio Bowie

Deutschland hat nach der letzten Bundestagswahl ein Bundesbauministerium erhalten. Bedeutet das, dass in der Politik und weiten Teilen der Bevölkerung die Sensibilität dafür wächst, welch grossen Anteil an der Klimakrise die Bauwirtschaft hat, wie viel sie aber auch zur Lösung beitragen kann? Bis anhin standen ja eher Themen wie Mobilität, Reisen, Konsumverhalten, Landwirtschaft oder Ernährung im Fokus.

KLR: Das hoffen wir. Aber es scheint doch eher so, dass es der Bundesregierung primär um die Linderung der grassierenden Wohnungsnot geht. Momentan werden in Deutschland Stückzahlen an neuen Wohnungen in den Raum geworfen, die im Widerspruch zu den Klimazielen stehen. Unser Bundeskanzler Olaf Scholz versprach 400'000 neue Wohnungen pro Jahr. Aber es ist fragwürdig, Zahlen aufzurufen, ohne zu sagen, wie gross die Wohnungen sein sollen oder wie neue Bauflächen gewonnen werden, ohne dass noch mehr versiegelt wird. Wichtig wäre hier, den Bestand auch in Ballungsräumen auf eine mögliche Wohnnutzung hin zu prüfen und nachzuverdichten. Bei Neubauten ist auf die Qualität und Nachhaltigkeit zu achten, damit diese nicht in dreissig Jahren wieder abgerissen werden.

Es wäre wohl besser, über den Platzbedarf pro Person und unsere Anspruchsmentalität zu diskutieren.

MS: Richtig! Zum Thema Suffizienz muss es eine breite gesellschaftliche Debatte geben, sonst ändert sich da gar nichts. Alle müssen die eigenen Ansprüche und Gewohnheiten infrage stellen, das gilt natürlich auch für mich selbst. Wir haben Klara Geywitz, die frischgebackene Bauministerin, in Nürnberg an den BDA-Tagen gehört. Ihr Vortrag ging in die richtige Richtung, sie hat gute Ideen. Jetzt muss man abwarten, was sie bewirken kann und vor allem mit wie viel Geld sie wirklich ausgestattet ist.

Foto: Studio Bowie
Foto: Studio Bowie

Braucht es in Deutschland grössere finanzielle Anreize für ökologisch und sozial nachhaltigen Wohnbau? Patrick Lüth, der das Studio von Snøhetta in Innsbruck leitet, hat im Interview mit unserem österreichischen Partnermagazin auf austria-architects.com vorgeschlagen, Entwickler, die in Sachen Nachhaltigkeit einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen, finanziell besserzustellen. Zum Beispiel könne man jenen, die eine niedrige Gesamtemission an CO2 nachweisen, eine höhere Dichte gestattet oder steuerliche Vorteile gewähren.

KLR: Finanzielle Anreize sind absolut notwendig, denn ohne sie sieht in der Baubranche kaum jemand einen Grund, neue Produkte zu entwickeln. Vielleicht wird hier auch die diesen Januar in Kraft getretene EU-Taxonomie helfen. Sie macht transparenter, ob Unternehmen umweltfreundlich wirtschaften oder eben nicht. Das soll Investitionen steuern und dem Greenwashing Einhalt gebieten. Ich bin überzeugt, dass wir nicht einfach auf ein Umdenken warten dürfen, zumal wir es in der Bauindustrie mit einem Heer von Lobbyisten zu tun haben, die die Mär verbreiten, nachhaltige Materialien seien grundsätzlich teurer. Sie möchten, dass wir auch weiterhin bauen wie in den letzten zwanzig Jahren.

MS: Eigentlich haben wir in Deutschland bereits ein strenges Reglement, doch es gibt zu viele Ausnahmen. Obwohl wir über eine Vielzahl an Qualitätssiegeln verfügen, ist es einfach, ein Schlupfloch zu finden und trotzdem nicht nachhaltig zu bauen. Obendrein sind viele Zertifizierungen in privatwirtschaftlicher Hand. Das ist falsch. Wie kann es denn sein, dass Zertifikate, die die ganze Gesellschaft angehen, von der Privatwirtschaft genutzt werden, um Gewinne zu maximieren? Das muss geändert werden. Die Regeln müssen Zug um Zug strenger werden. Frankreich zum Beispiel ist da weiter. So darf man dort besonders wenig nachhaltige Bauten ab 2025 gar nicht mehr vermieten. Investoren begreifen so, dass sie bald nur noch mit umweltfreundlichen Bauten Mieten erwirtschaften können. 

KLR: Vielleicht haben wir sogar zu viele Zertifikate. Das kann innovative Lösungen auch blockieren und zu einem übertriebenen technischen Aufwand führen, etwa in der Haustechnik. Was wir brauchen, ist ein europaweit einheitliches System von Materialpässen. Dann könnten wir uns viele Zertifikate sparen. Unsere Gebäude sollten einen klar zu beziffernden Materialwert haben. Das könnte bei den Investoren eine andere Denkhaltung fördern.

MS: Baumaterial wird in Zukunft zur Mangelware werden. Dessen ungeachtet ist es heute aber im Vergleich zur Arbeit billig. Anna Heringer sagte unlängst, man müsste Material besteuern, statt wie bisher Arbeit. Damit bin ich voll einverstanden. Wie vorhin schon gesagt: Eine funktionierende Kreislaufwirtschaft und ein umweltfreundlicher, schonender Umgang mit Ressourcen erfordern ein neues Wirtschaftssystem.

Foto: Studio Bowie

Lasst uns noch einmal das Thema wechseln und über euren Werdegang sprechen. Ihr habt euch sehr zeitig nach dem Studium selbstständig gemacht. Das hat mich verwundert, denn man hört immer wieder, es sei für junge Architekt*innen in Deutschland extrem schwierig, ein eigenes Büro aufzumachen, zum Beispiel wegen des Wettbewerbswesens, das junge Gestalter*innen ohne Referenzen benachteiligt.

KLR: Nach dem Studium haben wir wenige Jahre Berufserfahrung gesammelt, sodass wir einmal die Leistungsphasen 1 bis 9 durchgearbeitet haben. Das ist wichtig. Nach unserer Bürogründung haben wir nur an wenigen Wettbewerben teilgenommen. Stattdessen haben wir Innenausbauten für junge Start-ups realisiert. Mit diesen Firmen sind wir dann organisch gewachsen, und aus Innenraumgestaltung wurde Hochbau. Man sollte sich von alten Denkmustern und Glaubenssätzen lösen. Auch in der Architektur braucht es mehr New Work und frische Ideen hinsichtlich der Geschäftsmodelle.

MS: Unsere Hierarchie ist flacher als in einem klassischen Architekturbüro. Unsere Mitarbeiterinnen gestalten ähnlich viel wie wir. Wir begegnen uns auf Augenhöhe. Es würde sicher helfen, wenn wir alle unser bisweilen grosses Architektur-Ego herunterschrauben.

Bekanntlich haben wir in der Architektur mittlerweile einen hohen Frauenanteil im Studium und in den Büros, ebenso in der Lehre und im Fachjournalismus. Doch die Schlüsselpositionen sind mehrheitlich männlich besetzt. Bürochefinnen wie ihr sind selten. Viel wurde schon diskutiert, was falsch läuft in der Szene. Aber ich frage mich, ob das überhaupt der richtige Ansatzpunkt ist. Müssten wir nicht eher einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs über Erziehung führen? Schaut man sich beispielsweise in einem beliebigen Spielzeugladen um, fällt alsbald auf, wie stark noch immer althergebrachte Rollenbilder vermittelt werden.

MS: Da bin ich bei dir. Aber würdest du uns diese Frage auch stellen, wenn wir zwei junge Männer wären? Bisher ist es leider so, dass Fragen nach der Erziehung und der Sorgearbeit an die Frauen gerichtet werden. Dabei gehen sie alle an, auch die Männer. Übrigens finde ich es auch schade, dass junge Männer, die sich an der Care-Arbeit beteiligen und um ihre Kinder kümmern, kaum sichtbar gemacht werden – wahrscheinlich, weil sie einem immer noch in vielen Köpfen verankerten Bild von Männlichkeit nicht entsprechen. Wir bräuchten sie als Vorbilder.

KLR: In der Architektur und auf dem Bau haben wir es vielfach mit sexistischen Stereotypen zu tun, von denen man denken könnte, dass sie Relikte aus der Vergangenheit sind. Oft habe ich schon gehört, Frauen seien zu emotional, um den Job zu machen. Noch immer wird ein überkommenes Bild von Männlichkeit idealisiert. Man ist aber keine geachtete Respektsperson, weil man cholerisch herumschreit. Wir versuchen nicht, wie Männer zu sein. Wir sind Frauen und haben unsere eigene Herangehensweise. Verschiedene Menschen bringen auf unterschiedliche Art einen Mehrwert ein. Wir brauchen mehr Diversität und Offenheit.

MS: Zum Thema Stereotypen möchte ich noch etwas ergänzen: Kim hat eben erklärt, dass wir mit Innenarchitektur begonnen haben. Mittlerweile mussten wir feststellen, dass es gerade für uns als Frauen sehr schwer ist, aus dieser Ecke wieder herauszukommen. Zwar werden wir zum Beispiel mit allerhand Workshops betraut, aber am Ende bleiben die «echten» Architekturaufträge doch den immer selben Männern vorbehalten. Leider bekommen wir des Öfteren zu spüren, dass man jungen Frauen weniger zutraut. Und zwar obwohl sie statistisch gesehen fleissiger sind und die besseren Abschlussnoten vorweisen können. Das ist frustrierend. Hier bleibt gesamtgesellschaftlich noch viel zu tun. Wo man da ansetzen könnte? Vielleicht sind die Spielwarenläden tatsächlich ein guter Startpunkt.

 

 

Kim Le Roux hat an der UCT in Kapstadt (RSA) und an der TU Berlin Architektur studiert. Geprägt von ihrer Kindheit in Südafrika, sieht sie im Schaffen von Architektur eine Möglichkeit, einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit zu leisten. 2021 ist sie als Mitglied in den BDA Berlin berufen worden.

Margit Sichrovsky hat an der Bauhaus-Universität Weimar und an der TU Berlin Architektur studiert. Für sie stehen gesellschaftliche Anforderungen immer im Vordergrund, ebenso wie die Frage, welchen Einfluss Architektur auf das direkte Umfeld und jeden Einzelnen hat. 2021 ist sie als Mitglied in den BDA Berlin berufen worden. Seit 2022 ist sie Teil des Arbeitskreises Nachhaltiges Planen und Bauen der Architektenkammer Berlin.

Das Büro LXSY Architekten wurde 2015 von Kim Le Roux und Margit Sichrovsky in Berlin gegründet. Als Architekt*innen beschäftigen sich die Mitglieder des Teams mit der Frage, wie wir als Gesellschaft in Zukunft zusammen leben und arbeiten wollen. Für ihre Projekte haben LXSY Architekten unter anderem den German Design Award 2017 und den Iconic Award 2019 gewonnen. 


Wir sprechen regelmässig mit interessanten Persönlichkeiten aus der Schweiz und dem benachbarten Ausland über soziale, kulturelle und politische Themen.

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