Everything Everywhere All at Once
Tina Mott
7. juni 2023
«Homo Urbanus Rabatius» (Foto: © Bêka & Lemoine)
Noch bis zum 27. August zeigen Ila Bêka und Louise Lemoine ihr Filmprojekt «Homo Urbanus» im S AM, mit dem sie das Alltagsleben in zehn Weltstädten beleuchten. Sie eröffnen neue Perspektiven und unbekannte Dimensionen.
Die monochromen Vororte Basels verschwimmen im grauen Frühlingsregen. Rasch schlüpfen wir durch das pilasterbewehrte Portal der Kunsthalle und lassen im Foyer mit den triefenden Regenschirmen auch die Belanglosigkeiten des Tages zurück. Denn uns ist zu Ohren gekommen, die Mauern des neoklassizistischen Musentempels bergen seit Anfang April nicht nur zeitgenössische Installationen und Skulpturen, sondern auch einen geheimnisvollen Riss im Gefüge von Raum und Zeit. Vermutlich gar nichts Ungewöhnliches in der Kapitale der alchemistischen Künste.
Und tatsächlich, mit kühnem Schritt über die Schwelle des Schweizerischen Architekturmuseums (S AM) tauchen wir unvermittelt in ein pulsierendes Multiversum aus Licht und Klang. In einer Sequenz von abgedunkelten Räumen finden wir uns inmitten eines Kaleidoskops der wundersamen Bilder und unbekannten Stimmen. Versunken in wortlosem Staunen lassen wir uns von Saal zu Saal treiben, auf einer Entdeckungsreise, deren Faszination und Schönheit jenseits der Oberfläche liegen. Ein schwebender Tanz durch die Komplexität und Dynamik des Zusammenspiels zwischen Menschen und dem sie umhüllenden gebauten Raum.
«Homo Urbanus Shanghaianus» (Foto: © Bêka & Lemoine)
«Homo Urbanus Seoulianus» (Foto: © Bêka & Lemoine)
Das italienisch-französische Künstlerduo Ila Bêka und Louise Lemoine präsentiert seinen fortlaufenden Werkzyklus «Homo Urbanus» in Form von vier raumgreifenden, in Endlosschleife laufenden Filminstallationen, die parallel zueinander projiziert werden. Die beiden entführen uns auf eine Reise um die Welt, indem sie uns zu ihren ziellosen Spaziergängen und Streifzügen durch Metropolen wie Bogota, Doha, Neapel oder Kyoto mitnehmen. Mit der Kamera im Anschlag erkunden sie jede der zehn ausgewählten Städte, dokumentieren flüchtige Begegnungen an zufällig gefundenen Orten und begleiten namenlose Passanten auf ihren alltäglichen Pfaden im urbanen Geflecht – ohne Kompass und Karte, als kinematografische Odyssee.
Nach dem Motto «10 Filme, 10 Städte, 10 Stunden» werden jeder Destination zwischen 42 und 85 Minuten Projektionszeit gewidmet. Die einzelnen Sequenzen verweben sich durch sensibel gesetzte Schnitte und Montagen zu einer lyrischen Matrix von Geschichten, denn die Filmemacher erzählen mit zärtlichem Blick und oft auch feinem Sinn für die Absurditäten des Lebens. Sie erkunden nicht nur die physischen Aspekte der urbanen Räume, sondern vor allem auch die emotionalen, atmosphärischen und sozialen Dimensionen, die in diesen gewachsenen Stadtarchitekturen wirken.
Bereits seit ihrem liebevoll ironischen Erstlingswerk aus dem Jahr 2008 sind die Kunsthistorikerin und der Architekt dem internationalen Publikum ein Begriff, als der inzwischen als Kult gehandelte Film «Koolhaas Houselife» im Rahmen der 11. Architekturbiennale von Venedig seine Premiere feierte. Während der folgenden Jahren schufen sie eine Vielzahl von Installationen, Fotografien und Büchern sowie über 30 weitere experimentelle Filmprojekte, die in namhaften Museen und Kultureinrichtungen rund um den Globus gezeigt wurden.
«Homo Urbanus Venetianus» (Foto: © Bêka & Lemoine)
«Homo Urbanus Bogotanus» (Foto: © Bêka & Lemoine)
Durch ihre eigenwilligen und oft auch überraschenden Darstellungen ermutigen sie uns dazu, die tradierten Normen der Wahrnehmung von Architektur und Stadt infrage zu stellen. Ihre multidisziplinäre Annäherung eröffnet ungewöhnliche Reflexionsfelder und lädt ein, die Verbindung zwischen Raum und Gesellschaft neu zu denken. So erweisen sich ihre Arbeiten als eine inspirierende Herausforderung etablierter Konventionen.
Gemeinsam mit Andreas Kofler, dem Kurator und stellvertretenden künstlerischen Leiter des S AM, adaptierten sie für ihre Schau in Basel die Räumlichkeiten am Steinenberg mit viel Bedacht und entwickelten die Ausstellung als duales Konzept der Wahrnehmung und des Erlebens. Die Eingangshalle eröffnet durch die Installation von Texten, Fotografien und eines Videointerviews mit den Kunstschaffenden einen analytischen Zugang zu ihrem Werk, während die Ausstellungssäle durch die Filmprojektionen der sinnlichen Erfahrung gewidmet sind, die Betrachter in ihren Bann ziehen und emotional berühren.
Ansicht der Ausstellung «Homo Urbanus – A Citymatographic Odyssey by Bêka & Lemoine» im S AM (Foto: © Tom Bisig)
Foto: © Tom Bisig
Es entsteht ein faszinierendes Geflecht von Projektionen, das nicht nur auf die vier Wände geworfen, sondern auch im Dazwischen gesponnen wird. In immer neuen Kombinationen verschmelzen die Bilder und Töne zu einem Dialog der Städte, zu einem klingenden Echoraum der verschiedenen Sprachen, Kulturen und Architekturen. Während die Kameraführung in stiller Beobachtung ruht, entfalten sich stetig neue Narrative vor unseren Augen und Ohren, denn die zufälligen Montagen eröffnen unbekannte Perspektiven und Dimensionen, schaffen einzigartige Resonanzen.
Durch das kluge Bespielen der Räumlichkeiten haben wir die Wahl, entweder auf einer der einladenden Sitzgelegenheiten Platz zu nehmen, um uns in Ruhe und Konzentration einem einzelnen Film zu widmen, oder aber leicht und frei zwischen den Projektionsräumen zu flanieren wie Wanderer zwischen den Welten. So nicken wir uns am Ufer des Hangang zu, lächeln im überfluteten Gassengewirr von Venedig und begegnen uns wieder in der Eiswüste von St. Petersburg. Denn auch wir Besucher sind in das magische Gefüge eingewoben und miteinander verbunden, wenn wir gemeinsam zu dieser Abenteuerreise durch die Metropolen der Welt aufbrechen und uns von ihren poetischen Momenten verzaubern lassen.
«Homo Urbanus» ist die bisher grösste Arbeit von Ila Bêka und Louise Lemoine. (Foto: © Bêka & Lemoine)
Die Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum (Steinenberg 7, 4051 Basel) läuft noch bis zum 27. August dieses Jahres. Der Eintritt kostet 12 Franken (8 mit Ermässigung). Wer die Quittung behält, kann die Schau ein zweites Mal gratis besuchen.
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