China im Aufwind

World-Architects.com
7. november 2019
Zhou You im Gespräch mit World-Architects-CEO Renato Turri (Foto: Kevin Gu)

In China sind Shen Lei und Zhou You, die beide schon als Architekten gearbeitet haben, längst bekannte Interior Designer. Sie gelten in Fernost als grosse Talente und leiten erfolgreiche Studios. Doch im Westen sind sie bisher wenig in Erscheinung getreten. Wer sind die beiden Gestalter verschiedener Generationen, die stellvertretend für viele aufstrebende Designer*innen in China stehen können? Anlässlich der ITSH, einer grossen Messe für Heimtextilien, die Ende August in Shanghai stattfand, haben wir sie getroffen. In zwei kurzen Gesprächen haben wir sie jeweils zu ihrem Werdegang und ihrer Haltung befragt.

Shen Lei

World-Architects.com: In China bist du sehr bekannt. Hingegen wissen im Westen wenige über deine Arbeit Bescheid. Was zeichnet dich aus? Wie würdest du dich für ein internationales Publikum beschreiben?

Shen Lei: Ich bin seit vielen Jahren Designer und spüre mehr und mehr die Wichtigkeit meiner Disziplin. Der Unterschied zwischen einem «Designer» und einem «Künstler» besteht schlicht darin, dass der Designer im Sinne der Funktion arbeiten muss. Doch momentan können wir etwas gestalten wie Künstler*innen.

 

WA: Design ist also eine Art Kunst mit Gebrauchswert?

SL: Design ist frei wie die Kunst – das wollte ich sagen und nicht, dass wir in unseren Gestaltungen Kunst benutzen. Ich hoffe, ich kann entwerfen, was immer ich möchte. Wenn wir sehr viel über die Funktion wissen, haben wir hernach mehr Freiheit beim Gestalten. Kurzum: Was ich zum Ausdruck bringen möchte ist, dass meine Herangehensweise der Kunst sehr nahe verwandt ist.
Der chinesische Markt ist dankbar: Man hat viele Möglichkeiten und kann viele verschiedene Versuche wagen, etwas riskieren. Selbst wenn sich nachher einmal ein Problem zeigt, akzeptieren die Leute das. Das ist meiner Meinung nach sehr speziell an China. Zudem ist unser Land der grösste Markt der Welt, darum haben wir Designer*innen enorme Möglichkeiten. Wenn man Design allerdings nur als Job ansieht und jedes Mal etwas Ähnliches macht, wird man den Beruf alsbald (auch in China) langweilig finden.

Shen Lei während einer Podiumsdiskussion an der ITSH (Foto: Kevin Gu)

WA: Du bist Professor. Würdest du sagen, Design sei eine Wissenschaft?

SL: Vielleicht bedeutet zu gestalten eher, etwas zu entwickeln. Ich würde mich unter Druck fühlen, stellte ich mir Design als Wissenschaft vor. Die Disziplin ist viel näher an der Kunst als an der Wissenschaft, denn von Gestalter*innen wird erwartet, Probleme hinsichtlich der Funktion zu lösen, die richtigen Materialien, Beleuchtung und dergleichen zu finden. Die ästhetische Seite kann man dann gut oder schlecht finden, das ist Geschmacksache.

 

WA: Würdest du dich dann in gewisser Weise als Ingenieur für Design bezeichnen?

SL: Nein. Ich habe heute ein Designbüro mit 50 Mitarbeiter*innen, das im Ausland vielleicht als gross gelten würden, in China aber eine kleine Firma ist. Ich arbeite nur in der Kreation – dem angenehmsten Teil. Anfangs, nachdem ich mein Bachelorstudium in Design abgeschlossen hatte, war ich dem Institut für architektonisches Design und Forschung der Provinz Zhejiang zugeteilt. Ich habe sechs Jahre als Architekt gearbeitet. Nachdem ich genug Geld verdient hatte, ging ich nach Edinburgh, um wieder zu studieren. Die Zeit als Ingenieur habe ich also schon hinter mir.

 

WA: Das bringt mich zu meiner nächsten Frage: Wenn du wählen dürftest, was du gestaltest, für wen und wo – was würdest du machen?

SL: Ich bin gerade ziemlich aufgeregt und froh, denn ich werden ein Projekt in Suzhou machen, einer wunderschönen Stadt in China. Es handelt sich dabei um die Renovierung eines 2'500 Quadratmeter grossen Markts in der Altstadt. Ich bin ganz aus dem Häuschen deshalb. Mein Thema des Forums, «Design for favorite life», ist nämlich vom Markt inspiriert, denn er ist jede Woche der am stärksten frequentierte öffentliche Raum. Das steht in Relation zum Leben. Ich liebe Kochen. Dabei habe ich niemals gekocht, ehe ich in Edinburgh studierte. Nach dem Studium im Ausland, wurde Kochen allmählich meine Art auszuspannen. Es ist für mich erholsam, über einen Markt zu schlendern und einzukaufen. Ich denke, ich bin eine extrem effiziente Person. Jeden Tag gehe ich um 10 Uhr ins Büro und breche um 15 Uhr wieder auf. Dann gehe ich zum Markt, koche und geniesse mein Leben.
Ich liebe Gestalten. Design ist mein Job, aber nur ein Teil meines Lebens. Darum mache ich immer vier oder fünf Wochen Ferien und bereise die ganze Welt, um andere Lebensstile kennenzulernen. Auf den Markt zu gehen ist die schnellste Möglichkeit, eine fremde Stadt zu verstehen, und für mich eine Inspirationsquelle.

Shen Lei (Foto: Kevin Gu)
Shen Lei, «Chengdu Yan» (Foto: Pan Jie)

WA: Zwischenzeitlich hast du viel Erfahrung gesammelt. Würdest du gerne im Ausland unterrichten und dein Know-how ausserhalb Chinas weitergeben? 

SL: Unterrichten ist eine sehr wichtige Sache für mich. Aber vielleicht habe ich noch nicht das Level erreicht, um anderen wirklich etwas beizubringen. Es gibt viele öffentliche Diskussionen und Vorträge in China. Ich sage jungen Designer*innen bei solchen Anlässen jedes Mal, dass ich ihnen eine Attitude vermitteln kann, nicht aber eine Methode lehren.

 

WA: Dann bist du eher ein Lebensberater denn ein Lehrer?

SL: Lass mich dir dazu eine bemerkenswerte Geschichte erzählen: Es gibt einen Angestellten in meinem Büro, dessen Vater ist ein guter Freund. Vor einiger Zeit war ich mit letzterem etwas trinken. Er fragte: «Mein Sohn ist ein Koch, kann er als Designer arbeiten?» Sein Sohn hatte bis anhin nichts über Design gelernt, aber kam später tatsächlich in unser Büro. Er arbeitet mittlerweile seit vier Jahren bei uns und macht sehr gute Visualisierungen. Die Moral von der Geschichte: Wenn du jemanden, der noch nie etwas über Design gehört hat, in ein entsprechendes Umfeld packst, wird er mit den Leuten um sich herum eine Verbindung aufbauen, sich mit ihnen austauschen und kann ihnen helfen, ihre Gestaltungen besser zu machen.

 

WA: Was wäre zum Abschluss deine Botschaft an junge Leute, die Designer*innen werden wollen?

SL: Da möchte ich mit einem schönen Zitat antworten, es stammen von Rodin. Der Dekan der Fakultät für Design in Edinburgh hat es uns in der ersten Vorlesung gesagt, als ich noch Bachelor-Student war: «Ein Gestalter sollte ein einfühlsames Herz und geschickte Hände haben.» Das hat mich nachhaltig beeinflusst. Ein einfühlsames Herz bedeutet, ein Gespür für das Design und die Kundschaft zu entwickeln. Geschickte Hände meint, dein Ziel darf nicht bloss sein, deine Gestaltung zu zeichnen; es muss vielmehr sein, sie Realität werden zu lassen.

Zhou You

Zhou You (Foto: Erik Ho)

WA: Du bist ein junger, dynamischer Designer. Wie würdest du dich einem internationalen Publikum erklären?

Zhou You: Ich bin ein Designer mit eigenem Studio. Ich habe einen Bachelor in Architektur von der Central Academy of Fine Arts (CAFA) in Beijing sowie Master in Design und Design Management vom Pratt Institute in New York.

 

WA: Warum eigentlich das Pratt Institute?

ZY: Zuallererst ist das die Schule meiner Träume. Wir alle wissen doch, dass sie dort die beste Interior Design-Ausbildung in den Vereinigten Staaten haben. Ausserdem liebe ich New York. Ich habe fünf Jahre in der Stadt studiert und wollte nachher wirklich bleiben. Zugleich aber wollte ich mein eigenes Business starten, da war es für mich einfacher, zurückzukommen und es hier zu machen, nicht in New York. Ich hätte fünf oder sechs Jahr gebraucht, um mich anzupassen – doch das war mir zu lang.

 

WA: Du hast dein Büro 2015 gegründet, als du 28 warst. Der Erfolg gibt dir heute recht – es war die richtige Entscheidung nach China zurückzukehren.

ZY: Und trotzdem freue ich mich darauf, vielleicht bald ein weiteres Studio in New York zu haben.

 

WA: Besucht man deine Webseite, findet man Arbeiten aus den verschiedensten Designfeldern. 

ZY: Wir machen Architektur, Interior Design, Landschaftsgestaltung und vieles mehr. Ich möchte wirklich, dass die Menschen mich eher als «Designer» wahrnehmen denn als «Architekt». Für mich ist Design nicht nur ästhetisch und funktional; Design bedeutet, alles perfekt zu arrangieren. Ich habe eine Vorlesung, die heisst «Invisible Design»; das bedeutet, dass wir eine Menge Dinge machen, die im Hintergrund stattfinden – die mit Design zu tun haben, aber keines sind. Sie ist sehr ähnlich dem Design Management-Unterricht, den ich am Pratt Institute hatte.

 

WA: Wenn dich also BMW oder Ferrari ansprechen und bitten würden, ein Auto für sie zu entwerfen, dann könntest du auch das?

ZY: Gerade gestalten wir einen Anzug, einen, der massgeschneidert ist für mich. Ich wurde gefragt: «Designst du wirklich Anzüge?» Um ehrlich zu sein – nein. Aber ich habe das Konzept, die Materialien, die benutzt werden sollen, sowie meine Vorstellungen und Wünsche einem Modedesigner übergeben.

Zhou You, Nachtclub «Nassau» (Fotos: Cao Liang)

WA: In der gestrigen Diskussionsrunde hast du erwähnt, dass du eine interdisziplinäre und ganzheitliche Herangehensweise an Gestaltung hast. Bringt die Möglichkeit, mit verschiedenen Menschen zu arbeiten, dein Design voran?

ZY: Ja! Die Leute fragen mich: «Wie überwindest du die Grenzen zwischen verschiedenen Bereichen?» Aber für mich sind da gar keine Grenzen. Ich hegte schon immer Neugier für verschieden Designbereiche, weil ich die Disziplin wirklich mag. An einem gewissen Punkt haben sie alle dieselben essenziellen Eigenschaften. Wenn man fragt, wer der beste Designer der Welt sei, hat ja jeder seine eigene Antwort. Meine ist Deng Xiaoping.

 

WA: Ah, der «Architekt des modernen China»…

ZY: Mir ist schon klar, dass er im Westen kritisch gesehen wird. Doch Deng Xiaoping hat lange Jahre (1979–1997) für China gestaltet, damit wir ein gutes wirtschaftliches Umfeld haben. Er hat die Wirtschaft liberalisiert und dadurch den Wohlstand der Bevölkerung gesteigert. Er ist der beste Designer, doch hat er nie einen Abschluss an einer Designschule gemacht, Rhino und SketchUp kannte er nicht. Ausserdem: Das Wort «Design» kommt von «bezeichnen», was zunächst noch nichts zu tun hat mit funktionalen oder ästhetischen Bewandtnissen.

 

WA: Was können westliche Designer*innen von chinesischen lernen und umgekehrt?

ZY: Das ist eine schwierige Frage. Ich würde ihnen von einem Projekt erzählen, das wir gerade abgeschlossen haben. Wir haben bei diesem chinesische Elemente verwendet wie Tinte, Bambus, Wasser und Mondlicht – sehr chinesische Dinge. Ich denke, die Menschen im Westen mögen es sehr. Letztes Jahr haben wir zudem eine kleine Pop-up-Galerie für eine chinesische Tintenfirma – sie verkauft Tinten und Pinselstifte – gestaltet, die sieben Tage in Betrieb war, 28 Quadratmeter gross und in vier Räume unterteilt. Das Projekt wurde mit dem Iconic Award ausgezeichnet, einem deutsche Design Preis, und dem IF sowie dem Red Dot Design Award.

 

WA: Wenn du einen Wunsch frei hättest, was würdest du entwerfen wollen, für wen und wo?

ZY: Ich würde gerne eine Sportanlage auf dem Dach eines Gebäudes in Shanghai gestalten. So richtig lässig wäre es, wenn es nahe der Uferpromenade sein könnte. Man könnte dann vom Dach in den Fluss springen und sich abkühlen. Ich möchte Crowdfunding nutzen, um das nötige Geld zu sammeln, und die Nutzer*innen sollen beim Bauen mitmachen. Auf der Webseite kickstarter.com habe ich 2013 über das Projekt +POOL gelesen. Es wurde von zwei Architekten und einem Designer initiiert. Es war einfach ein schwimmender Pool in New York. Sie haben Visualisierungen gepostet und waren damit sehr erfolgreich. Das war eine wirklich gute Gelegenheit für die Gestalter, Gründer zu werden. Doch leider wurde das Vorhaben bisher nicht umgesetzt. Es gab keine Genehmigung. Es ist eine tolle Idee, aber ich denke, sie ging zu weit, war zu ambitioniert. Ich möchte es einmal besser machen.

 

WA: Eine wunderbare Idee!

ZY: Wir haben in Beijing eine Auslage gestaltet und dabei bereits ein ähnliches Konzept verfolgt.

Zhou You, Auslage am Qinglong Hutong in Beijing (Foto: Cao Liang)

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