Zu gross gedacht

Jenny Keller
3. maart 2016
Filmstill aus der Dokumentation «Andermatt – Global Village» © Docmine

Um 1900 war Andermatt (schon einmal) ein mondäner Tourismus-Ort, im Zweiten Weltkrieg war das Dorf im Urserntal am Gotthard Teil der Alpenfestung, danach fest in den Händen des Schweizer Militärs, das mit seinem geschichtlich bedingten Abwandern eine Leere hinterliess. Diese füllte Samih Sawiris mit seinen hochfliegenden Ideen, die seit 2009 sogar gebaut werden. Eine neue Klasse von Touristen werde nach Andermatt kommen, und das Dorf werde sich verändern. Das versprach der Investor Sawiris, der persönlich die Mehrheit an der Firma «Andermatt Swiss Alps» (ASA) hat, vor gut zehn Jahren, um die Ursener auf seine Seite zu ziehen.
 
Bei einem Augenschein im Winter 2015 herrschte gähnende Leere im Dorf – und auch im Speisesaal des Chedi hätten mehr Gäste Platz gehabt. Der Aufschwung, den man sich in Andermatt erhofft hat, lässt auf sich warten. Mit diesem Fazit endet auch der Dokumentarfilm «Andermatt – Global Village» von Leonidas Bieri, der letzten Sommer ins Kino kam und dessen Bilder diese Geschichte begleiten.
 

Filmstill aus der Dokumentation «Andermatt – Global Village» © Docmine

Das Dorf hat sich tatsächlich verändert, denn nicht nur für das Chedi fuhren die Kräne auf. Am Dorfeingang stehen bereits vier Apartmenthäuser etwas verloren auf einem gigantischen Betonsockel, der Hochwasserschutz, Tiefgarage und Logistik-Drehscheibe in einem ist. 38 (!) Häuser sollen noch folgen, dazu zwei Hotels. Für die Planung von «Neu-Andermatt» interessierten sich im Jahr 2007 renommierte Architekturbüros aus dem In- und Ausland und reichten ihre Entwürfe ein. Mittlerweile ist keines der Büros mehr am Bau beteiligt.
 
Ortsfremd
Das Luxushotel ist trotz seiner Grösse und seiner Artfremdheit relativ gut ins Dorf eingebettet, «der Komplex besteht aus miteinander verbundenen Häusern, die bis zu fünf Geschosse hoch und mit ausladenden Satteldächern eingedeckt sind». So beschrieben wir es an dieser Stelle anlässlich der Eröffnung. Und weiter meinten wir, dass das hölzerne Blendwerk der Fassade als Hinweis auf eine (heimische) Chaletarchitektur mit Osteinfluss durchgehen könnte; doch es gilt zu bedenken, dass einem Luxushotel seine Umgebung relativ egal ist. Hauptsache, 18 Löcher, ein Helikopterlandeplatz, eine «View» und ein exklusiver Weinkeller sind vorhanden. Im Chedi gibt es darüber hinaus einen begehbaren Käsehumidor und einen Skiraum, der wiederum ausgestattet ist wie anderswo eine Bar. Und in dieser Sommersaison wird der 18-Loch-Golfplatz eröffnet, der sich zwischen Andermatt und Hospental erstreckt und für den einige Bauern ihr Land verkauft haben.

Die Zielgruppe, die sonst in Gstaad, St. Moritz oder Zermatt absteigt, besuche aus Neugierde bestimmt das Chedi in Andermatt, prognostizierte Sawiris. Und werde dann wiederkommen, weil das Hotel eben eine Nummer grösser, schöner und annehmlicher sei als die vermeintliche Konkurrenz. Das mag sein. Die Zielgruppe wird dem Ort aber fremd bleiben, denn Sightseeing findet laut Hotelprospekt in Luzern statt, und zum Shoppen geht man nach Mailand, das nur einen «Katzensprung» entfernt liegt. Auch wenn in Andermatt Jobs geschaffen worden sind durch das Luxushotel und sich heute mehr Geld in der Gemeindekasse befindet als vor zehn Jahren, wird dieser Neustart nicht nachhaltig sein. Das Chedi generiere eine Weile lang Nachfrage, bleibe aber dem Ort fremd, weil es ein reines Investorenprojekt sei, das nicht mit der oder für die Gemeinschaft entwickelt wurde, schrieb auch der Architekturkritiker Gerhard Mack in der NZZ am Sonntag vom 6. September 2015.

 

Der Baumpfleger stammt aus Kalifornien. Im Hintergrund das Haupthasu des Chedi. Bild: Filmstill aus der Dokumentation «Andermatt – Global Village» © Docmine

Auch wenn man Eigentum erworben hat – das Chedi ist nicht nur ein Hotel, zu seiner Finanzierung gibt es auch Wohneinheiten, so genannte Residenzen, die man als Eigentum erwerben kann, die aber weiterhin vom Hotel vermietet werden, was einem wieder Geld einbringt –, dürfte das ein emotionsloses Investment sein. Ausserdem harzt der Verkauf, gut die Hälfte der Residenzen ist aktuell verkauft.

Kopfschuss
«Eine Ferienwohnung ist wie ein Kopfschuss: Man braucht sie nicht», sagt Udo Schneider, ein Immobilienmakler, der die Apartments am Dorfeingang an den Mann bringen will, zu Beginn der Dokumentation «Andermatt – Global Village». Dass er und seine Kollegen auch Kopfschüsse verkaufen können, bestätigt Markus Berger der ASA auf Anfrage: «In den vier fertiggestellten und dem fünften, im Bau befindlichen Haus haben wir insgesamt gut 60% der Wohnungen verkauft». Neben dem fünften Apartmenthaus befinde sich auch das zweite Hotel (Hotel 4B) mit 180 Zimmern und den Gotthard Residences – das sind rund 100 bediente Apartments – im Bau, und die Baugenehmigung für den Bau von zwei weiteren Apartmenthäusern sei im Januar eingegangen. Diese dürften Ende 2017/Anfang 2018 bezugsbereit sein. Wir rechnen nach: Dann stehen nur sieben von geplanten 42 Apartment-Häusern. Das Bild wird auch dann nicht gross anders sein, als es sich in der letzten Wintersaison präsentiert hat: Viel zu dicht stehen sich klobige Häuser gegenseitig im Licht. Räumlich scheint der Anfang von «Neu-Andermatt» nicht gelungen. Architektonisch weist des neue Dorfquartier auch Defizite auf; nicht ohne Grund sind die planenden Architekten Burkhalter und Sumi (Hotel 4B) oder Marazzi Paul (Apartmenthäuser Hirsch und Biber) schon lange abgesprungen (vgl. Hochparterre, Ausgabe 8, 2015 vom 1. August 2015).
 
Ob es überhaupt weitergeht, ist unklar, denn Markus Berger sagt, dass nur gebaut wird, wofür der Markt reif ist, beziehungsweise eine genügend grosse Nachfrage besteht: «Nach hinten gibt es keine Zeitbeschränkung und keinen Wunschtermin – der Markt wird das Tempo der weiteren Entwicklung bestimmen».

 

Bustelle in der Reussebene am Dorfeingang. Hier entsteht «Neu-Andermatt». Bild: Filmstill aus der Dokumentation «Andermatt – Global Village» © Docmine

Mit der Modernisierung des Dorfes ist auch ein anderes Tempo in Andermatt angekommen: Die Eingesessenen im Dorf beklagen sich im Dokumentarfilm darüber, dass alles so schnell gehen muss. Schnell, fragt man sich? Der Ausbau von «Neu-Andermatt» auf dem Betonsockel am Dorfeingang kann gut und gerne noch zehn bis zwanzig Jahre dauern – oder irgendwann zum Erliegen kommen, wenn sich keiner mehr dafür interessiert. Samih Sawiris will den Umbau Andermatts bis zur Eröffnung des neuen Hotels mit öffentlicher Schwimmhalle, die er dem Dorf versprochen hat, noch begleiten; was er danach macht, ist ungewiss.

Für ihn wird Andermatt am Ende einfach ein weiteres Investment gewesen sein. Wahrscheinlich hoffte er vor der Finanzkrise, vor dem Arabischen Frühling, vor dem starken Franken und der Zweitwohnungsinitiative noch auf einen grösseren Gewinn in Andermatt. «Sawiris ist sehr günstig zu Land gekommen, das die verzweifelten Ortsansässigen ihm verkauft haben, und kann daraus ein wertvolles Produkt machen, das er später verkaufen oder selbst behalten kann, wenn es ertragreich ist», sagt auch Ernst Wysch, der Präsident von Hotellerie-Suisse Graubünden, in einem Interview mit dem Tagesanzeiger vom 15. Dezember 2015.

 

Der Ausbau des Skigebiets lässt auch auf sich warten. Bild: Filmstill aus der Dokumentation «Andermatt – Global Village» © Docmine

Freerider sind schon vor Sawiris nach Andermatt gefahren, wo sie auf dem Gemsstock traumhafte Verhältnisse vorfinden. Doch man wagt zu behaupten, dass der Chedi-Besucher lieber auf vorgewärmten Sesseli sitzt – auf die er noch eine Weile warten muss: Die Erneuerung der veralteten Anlagen und die Verbindung des Skigebiets mit demjenigen von Sedrun sind pendent und sollen 2018 abgeschlossen sein, sagt Markus Berger. Ein Termin, den wir uns merken, um erneut nach Andermatt zu schauen.
 


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