Ein Raum, zwei Welten?
Manuel Pestalozzi
8. november 2017
Die oft scharfe Trennlinie zwischen Verkehrs- und Aufenthaltsraum war am Austragungsort der Metron-Tagung nicht zu übersehen. Bild: Manuel Pestalozzi
Oft werden Siedlungsräume und Verkehrswege als Gegensätze gesehen. Die verantwortlichen Planungsfachkräfte der beiden Bereiche haben noch immer unterschiedliche Sichtweisen. Dies war an einer Tagung am 24. Oktober erkennbar.
«Der ÖV als Rückgrat der Siedlungsentwicklung» – so lautete der anregende Titel der Veranstaltung, bei dem der Öffentliche Verkehr (ÖV) im Zentrum stand. Er liess den Verfasser an das Huhn und das Ei denken, an die Frage, was denn zuerst da war. In diesem Fall: Verkehrsweg mit Transportmitteln oder Bleibe? Metron hofft natürlich dass es fortan der legefähige Vogel sein wird und dieser auch Objekte mit schlüpftauglichem, bekömmlichem Inhalt produziert. Das Büro aus Brugg, das Kompetenzen in Architektur-, Raum- und Verkehrsplanung unter einem Dach vereint, ist in unserem Land wohl wie keine zweite Instanz dazu prädestiniert, dazu als Impulsgeberin und -empfängerin das interessierte Publikum zu versammeln. Verdienstvollerweise tat es genau dies am 24. Oktober im Campussaal Brugg-Windisch, gleich neben dem SBB-Bahnhof. Das Interesse war gross: Rund 200 Teilnehmende reisten an.
Rückgrat zeigen – das Leihwort aus der Anatomie hat verschiedene Bedeutungen, die vielleicht auch die Erwartungen an die Veranstaltung repräsentierten. Primär ging es um die erwünschte Vision, dass man dort dichter baut, wo Bahn- oder Busstationen nahe sind. Sie ist natürlich nicht neu; erinnert sei beispielsweise an das Stadtentwicklungskonzept Ciudad Lineal von Arturo Soria y Mata aus dem späten 19. Jahrhundert: Entlang einer zentralen Achse mit Strassenbahn sollen sich beidseits die Bauparzellen in einer Tiefe von 200 Metern aufreihen. Dieses Rückgrat-Konzept wurde in der Folge auch in Fragmenten realisiert – an der Peripherie der Grossstadt Madrid, die seither von der Ausdehnung des Siedlungsgebiets in der Fläche längst geschluckt wurde. In der Schweiz wäre eine solche Planungs-Idee wohl auch vor hundert Jahren nicht über den reinen Gedanken hinaus gediehen – selbst wenn Regionen wie das Limmattal zwischen Zürich und Baden bis heute den Charakter einer Bandstadt aufweisen.
Unerreichbares «Rückgrat»-Ideal: Die Ciudad Lineal der Compañía Madrileña de Urbanización in einem Aquarell von Arturo Soria y Mata von 1895. Bild: Wikimedia Commons
Vom Bestehenden ausgehend
Die Schweiz befindet sich in der Situation, dass dem von Metron beschworenen Rückgrat-Gedanken vielerorts schon nachgelebt wurde und wird. Trotzdem besteht Handlungsbedarf, betonte in Brugg Marc Schneiter, Verkehrsplaner bei der Gastgeberin. Vor dem Hintergrund von Mobilitätswachstum, gesättigten Netzen und Innenverdichtung könne die künftige Mobilität nur mit effizienten Verkehrssystemen sinnvoll bewältigt werden. Davon ausgehend stellte Metron an der Veranstaltung zehn Thesen in den Raum, die einerseits die anzustrebende Natur des Öffentlichen Verkehrs, andererseits die Beziehung von ihm zur Siedlungsplanung betreffen. Sie begleiteten die Veranstaltungen, einerseits als an die Wand geheftete Statements – das Lutherjahr hinterliess in Brugg seine Spuren – andererseits als Guidelines für die Referate und Diskussionen. Ihr Inhalt: die Anerkennung der Wichtigkeit effizienter Öffentlicher Verkehrsmittel angesichts der zu erwartenden Bevölkerungszunahme und deren Wirkung auf die weitere Siedlungsentwicklung.
Bereits während den einleitenden Worten von Marc Schneiter wurde dem Laien in Sachen Verkehrsplanung klar, dass die Fachleute aus diesem Gebiet sich mit Problemen herumschlagen, die mit stadträumlichen Überlegungen direkt oft wenig zu tun haben. Es geht primär um das Abschätzen künftiger Quantitäten. Wieviel Transportkapazität? Welche Frequenzen müssen Linien des Öffentlichen Verkehrs bewältigen? Und: Welche Verkehrsmittel werden in Zukunft bevorzugt? Bei Metron geht man aus von künftigen Metropolitanräumen, welche nach tangentialen Verbindungen im Öffentlichen Verkehr verlangen. Dadurch erhalten die radialen Verbindungen und die bestehenden Knoten Konkurrenz. Marc Schneiter sprach auch von den erahnten kulturellen Differenzen zwischen der Verkehrs- und der Stadtraumplanung. Der erste Bereich sei eine top down-Angelegenheit, der zweite kenne eine bottom up-Tradition, womit er vermutlich die Möglichkeit der Partizipation betroffener Bevölkerungskreise meinte. Die Kategorien müssten – so lautet eine der zehn Metron-Thesen – die selbe Sprache sprechen. Ein einprägsame Zielplanung fehle hier unserem Land noch. Vorbilder gäbe es, etwa die Fingerplanung in Kopenhagen.
Linien und entzündete Flächen – das Bild, das sich die Verkehrsplanung von der Schweiz der Zukunft macht. Darstellung der «Strategie 3» des Eidgenössisches Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK. Bild: UVEK
Gemeinsame Ebene
Die Vermutung, dass bei der Verkehrsplanung eine grosse Flughöhe herrscht und primär strategisch gedacht wird, bestätigten die anschliessenden Referenten. Ulrich Seewer, Vizedirektor Bundesamt für Raumentwicklung, und Wolf-Dieter Deuschle, Sektionschef Planung Bundesamt für Verkehr, projizierten vorwiegend Diagramme, Statistiken und Schemata an die Wand, sie sparachen von FABI, STEP und NAF, Abkürzungen für Leistungsfähigkeit – und auch von der RPG-Revision. Von der Bundesebene her bestätigten sie die von Metron herausgearbeiteten anstehenden Herausforderungen und auch die angetönten kulturellen Differenzen der Planungsdisziplinen. Das Schlüsselwort lautete bei ihnen «effizient». Leider ergibt das noch kein realitätsnahes Bild. Wenn die Absichten auf geographischen Karten als rote Flecken erscheinen, denkt der Betrachter eher an eine Reklame vor der Apotheke – an Krankheiten und Verletzungen, die mit Salben und Dragees geheilt werden müssen – anstatt an die schöne, lebenswerte Siedlungslandschaft von morgen.
Räumlich konkreter wurde es im Vortrag von Matthias Fischer von der Gesamtkoordination Regionale Gesamtverkehrs- und Siedlungskonzepte beim Amt für Gemeinden und Raumordnung des Kantons Bern. Er vertrat eine Instanz, die sich um die Abstimmung von Siedlung und ÖV bemüht. Sie operiert mit drei Grundanliegen: Innenverdichtung intensivieren, weitere Ausdehnung des Siedlungsgebiets einschränken. Und, jawohl, die zunehmende Funktion des ÖV als Rückgrat der Siedlungsentwicklung. Der Kanton Bern ist geographisch in sechs Regionale Gesamtverkehrs- und Siedlungskonzepte (RGSK) unterteilt, diese werden bottom-up erarbeitet. Der Fokus liegt auf der Berücksichtigung ländlicher Räume, bei der Glättung von Verkehrsspitzen und der Stärkung von Regionalzentren bei der ÖV-Versorgung. Unter den bereits konkret geplanten oder ausgeführten Beispielen für diese «typische Verbundaufgabe» befindet sich der kleine Knoten Innertkirchen im Berner Oberland. Bei der Bus/Bahn-Umsteigestelle ist ein neuer Siedlungsschwerpunkt entstanden. Der 2012 fertiggestellte Infrastrukturbau «Grimseltor» der Gschwind Architekten AG gibt ihm eine architektonische Ausprägung.
Schiene, Strasse, Architektur. Die ÖV-Umsteigestelle in Innertkirchen erhielt durch den Neubau «Grimseltor» eine architektonische Ausprägung. Bild: Amt für Gemeinden und Raumordnung des Kantons Bern
Spitzenreiter
In einem waren sich eigentlich alle Anwesenden einig: Der ÖV in der Schweiz ist Spitze. Es gibt wenige andere Länder, in dem das Angebot so weite Flächen erschliesst und in dem es so gut koordiniert ist. Wenig erstaunlich war deshalb, dass nur ganz am Rande vom Ausbau der bestehenden Weg-Infrastruktur die Rede war. Auch die Entflechtung von diesen Wegen, lange Zeit das A und O der Verkehrsplanung, gehört nicht mehr zu den diskutierten Themen – das möglichst schnelle Ein- und Aussteigen aber schon! In den Diskussionen auf dem Podium und den in der zweiten Tagungshälfte durchgeführten Workshops stand die Effizienz wieder im Rampenlicht, bezogen auf die Nutzung des bestehenden Netzes (Stichwort Glättung der Spitzen bei den Frequenzen) und die sinnvolle Siedlungsentwicklung. So waren Plädoyers für eine verstärkte Dezentralisierung des Siedlungsraums zu hören, für Hochhäuser bei Bahnhöfen von Vororten und komfortablen, breiten Unterführungen mit Aufenthaltsqualität – was es eigentlich alles schon gibt oder im Werden begriffen ist.
Wer reist per ÖV wann über welche Distanzen? Für diese Fragen muss nach neuen Ansätzen gesucht werden. Die Schweiz verschmilzt immer mehr zu einem einzigen Verkehrsgrossraum, der sich nicht um föderalistische Gebietsabstufungen schert und über die Landesgrenzen hinausreicht. Die Verkehrs- und die Siedlungsraumplanung muss sich mit diesen Belangen gemeinsam auseinandersetzen und der Allgemeinheit klare, verständliche Botschaften vermitteln. Hier besteht wohl – das lässt sich als Fazit nach der interessanten Veranstaltung ziehen – noch einiger Nachholbedarf. Die Zukunft kann nicht von Expertinnen und Experten alleine geplant werden, auch die Politik muss sich aktiv beteiligen. Diese war in Brugg auffällig untervertreten. Umso wertvoller war das anfängliche Grusswort von Frau Heidi Ammon, der Gemeindepräsidentin des Austragungsortes Windisch. Windisch und Brugg haben zwar einen gemeinsamen Bahnhof und ein durchgehend überbautes Siedlngsgebiet. Sie sind aber autonome politische Gemeinden, die in vielen Belangen dezidiert verschiedenen Meinungen vertreten – gerade auch in Verkehrsfragen, wo Windisch sich um ein koordiniertes Mobilitätsmanagement bemüht. Mit den Ausführungen der Gemeindepräsidentin streifte der Anlass kurz aber deutlich den politischen Prozess jenseits schematischer Visionen und erinnerte daran, dass mit der Planung des ÖV oft ganz konkrete lokale Zukunftsperspektiven verbunden sind, die es zu berücksichtigen gilt.
Die Präsentationen der Metron-Tagung vom 24. Oktober lassen sich herunterladen
http://www.metron.ch/m/mandanten/190/topic6349/story18727.html