Standortbestimmung

Manuel Pestalozzi
25. januari 2024
Foto: © Swiss-Architects.com
«Wir halten das Prinzip der Stadt für stärker als jede Architektur. Städte sind aufregender, vielfältiger, lebendiger und überraschender als jede noch so gute Architektur.»

Mathias Müller und Daniel Niggli

Das grossformatige, 1,6 Kilogramm schwere Buch ist weit mehr als eine Projektparade: Mathias Müller und Daniel Niggli zeigen nicht nur ihre Bauten, sondern versammeln auch Texte anerkannter Autoren und greifen sogar selbst in die Tasten. Mit ihrer neuen Monografie bringen sie ihre Haltung zum Ausdruck und verdeutlichen, für welches Verständnis von Architektur und Stadt ihr Büro EM2N steht. 

In verschiedenen Aufsätzen setzen sie sich mit ihrem Berufsverständnis und den Arbeitsbedingungen von Architekt*innen ganz allgemein auseinander. Die Grundsätze ihrer Position enthält der Essay «Stadtfabrik», der den Textteil der Monografie einleitet und dessen Überschrift zugleich auch der Buchtitel ist. Darin schreiben sie: «Wir halten das Prinzip der Stadt für stärker als jede Architektur. Städte sind aufregender, vielfältiger, lebendiger und überraschender als jede noch so gute Architektur.» Auch der «grosse Feind der Planung», das Unvorhersehbare nämlich, gehöre zu ihr. «Noch nie wurde in der Schweiz so viel und so teuer gebaut wie heute», halten die Architekten fest. Doch an einer gemeinsamen Idee scheint es dabei zu mangeln. «Geht es nur darum, Konflikte und Partikularinteressen zu verhandeln und aneinander vorbeizuplanen?», fragen Mathias Müller und Daniel Niggli rhetorisch. Sie plädieren stattdessen für eine «Stadt des toleranten Nebeneinanders». In ihrem manifestartigen Aufsatz kritisieren sie die Architektur von Entwicklungsgebieten, die oft nicht wie in einer gewachsenen Stadt sei, sondern eher wie eine Simulation von Urbanität wirke. Ihre Vision einer idealen Stadt hingegen ist die «Stadtfabrik». Sie formulieren: «Sie geht nicht von einer schönen Form oder Struktur aus, sondern vom städtischen Leben, ein lebendiger Ort, an dem fern von musealen Stadtinszenierungen durcheinander gearbeitet und gewohnt wird.» Diese Vision ist auch Ausdruck eines Architekturverständnisses, das den politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Kontext als wesentlich erkennt.

Foto: © Swiss-Architects.com
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Townscape in Buchform

Mit etwas Fantasie kann auch der Buchinhalt als kleine Stadt oder eigene «Stadtfabrik» gelesen werden. Man kann sich kreuz und quer auf unterschiedliche Flanierrouten begeben. Der Hauptteil besteht zwar aus den für Architekturmonografien konventionellen Projektpräsentationen, die chronologisch geordnet sind und so die Entwicklung der Architektur von EM2N wie auch des Büros selbst nachvollziehbar machen. Die gelungene Buchgestaltung des Duos Bonbon, deren gepflegte Typografie für eine sehr angenehme Orientierung und Lektüre sorgt, lässt viele Frei- und Zwischenräume, die mit zahlreichen Fotos, Skizzen, Erinnerungsstücken und Archivmaterialien gefüllt sind. Diese beziehen sich nicht nur auf die Projekte, sondern auch auf deren Umfeld. So lockern neun Bildstrecken von drei Fotografen und einem Zeichner den Reigen der Projektvorstellungen auf. Sie eröffnen einen vielfältigen und reichhaltigen Blick auf die Stadtlandschaft. Die Sujets stammen dabei grossenteils aus Zürich und Umgebung, wo Mathias Müller und Daniel Niggli die meisten ihrer Projekt verwirklicht haben.

Foto: © Swiss-Architects.com
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In den Essays kommen neben den Architekten der Reporter Max Küng, der 2019 viel zu früh verstorbene Architekt Marcel Meili und der emeritierte ETH-Architekturprofessor Marc Angélil zu Wort. Die Wahl dieser Autoren verortet EM2N mit seinem Wirken in einer Art «Avantgarde der Jahrhundertwende». Das Thema Re-Use spielte schliesslich im Werk des Büros, das Zürichs Toni-Grossmolkerei zwischen 2008 und 2014 zu einem Wohn- und Bildungsbau umgestaltete, schon eine wichtige Rolle, lange bevor es in aller Munde war. 

Diese längeren Aufsätze werden ergänzt durch anderthalb Dutzend kürzere «Meta-Texte» und «Love Letters», die ebenfalls locker ins Buch eingestreut sind. Sie geben ihm eine persönliche Note: In der ersten Gruppe äussern sich Mathias Müller und Daniel Niggli in der Art von Tagebucheinträgen oder Arbeitsnotizen zu diversen Themen. Sie schreiben etwa über die Aneignungsfähigkeit oder den intelligenten Rohbau. Die «Love Letters» sind jeweils bekannten oder auch völlig anonymen Bauwerken gewidmet. Das weniger bekannte «Rampenhaus» in der Gemeinde Schwerzenbach im Glatttal erhält sogar deren zwei; der zweite ist allerdings ein Nachruf, weil die imposante Aussenrampe das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nicht überstanden hat. Womit angedeutet ist: Zur «Stadtfabrik» gehört immer auch die Melancholie.

Foto: © Swiss-Architects.com
EM2N – Stadtfabrik. Plädoyer für eine Stadt des toleranten Nebeneinanders

EM2N – Stadtfabrik. Plädoyer für eine Stadt des toleranten Nebeneinanders
Mathias Müller, Daniel Niggli, Caspar Schärer und Medine Altiok (Hrsg.)

215 x 315 Millimeter
502 Pagina's
939 Illustrations
Broschiert
ISBN 978-3-03860-085-5
Park Books
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