Industrieanlagen neu erfinden: Wenn Firmen bleiben
Manuel Pestalozzi
21. 2月 2024
An das Technologiezentrum an der Zürcherstrasse, die ins Stadtzentrum führt, schliesst ein Bürogebäude an. Gestaltet wurde die neue Anlage vom einheimischen Büro BDE Architekten. (Foto: © Allreal)
Während in der Schweiz viele Industrieareale zu neuen Stadtquartieren umgestaltet werden, nutzt das Traditionsunternehmen Rieter seinen Stammsitz in Winterthur weiter. Am gerade fertig gebauten «Rieter Campus» werden neue Produkte entwickelt.
Die Geschichte der Firma Rieter begann im späten 18. Jahrhundert mit dem Handel von Gewürzen und Baumwolle. Schon wenige Jahre später nahm das Winterthurer Unternehmen die Produktion von Textilien und Maschinen auf. Bemerkenswert: Rieter baute Mitte des 19. Jahrhunderts als erstes Schweizer Industrieunternehmen eine Arbeitersiedlung. Etwa zur selben Zeit wurden die Maschinenwerkstätten an den neuen Standort im einstigen Kloster Töss verlegt, das Rieter 1833 erworben hatte. Im Laufe der Jahrzehnte wuchs das Betriebsgelände entlang des Flusses Töss und nach Westen. Noch heute sind die Entwicklung und Produktion von Spinnmaschinen das Kerngeschäft des Unternehmens.
Die Fertigung am Stammsitz wurde im Jahr 2016 allerdings geschlossen. Doch während zum Beispiel die Firma Sulzer, die Winterthur einst als Arbeiterstadt mitgeprägt hatte, ihr Areal Stück für Stück verkaufte, gab Rieter im Herbst 2017 bekannt, dass man sich auf dem Firmengelände völlig neu aufstellen wolle. Auf einer Fläche von rund 30'000 Quadratmetern sollten den Plänen zufolge ein Kundenzentrum, die Forschungs- und Entwicklungsabteilung, die Montage sowie die Verwaltung Platz finden.
Für die Umgestaltung wurde ein Studienauftrag lanciert, den BDE Architekten gewinnen konnten. Der Entwurf der Winterthurer umfasst einen markanten neuen Geschäftssitz am Nordwestrand des Areals, wo die Zürcherstrasse die Autobahn A1 überquert. Das neue Technologiezentrum und das Bürogebäude bilden mit ihren lang gezogenen und auf drei Geschossen miteinander verbundenen Baukörpern eine Einheit. Die Fassaden sollen technische Präzision verkörpern. Eine feine Haut aus abgekanteten gestanzten Blechen soll ausserdem an textile Gewebe erinnern und so auf die Firmengeschichte verweisen. Der Lichteinfall lässt sich über die Fassaden steuern. So verändert sich das Aussehen der Anlage je nach Tageszeit und Wetter.
Mit der Ausführung wurde das Generalunternehmen Allreal betraut. Nach zwei Jahren Bauzeit konnte die Firma nun den Abschluss der Arbeiten am neuen «Rieter Campus» vermelden. Anfang des Monats fand die Schlüsselübergabe statt.
Zwar produziert Rieter an seinem Stammsitz nicht mehr, doch Forschung und Verwaltung bleiben in Winterthur-Töss. (Foto: © Allreal)
Vom Industrieareal zum «modernen Lebensraum»?Spannend bleibt es in Winterthur unterdessen auch in den nächsten Jahren, denn Allreal baut in der Nachbarschaft weiter: Voriges Jahr hat das Unternehmen das 75'000 Quadratmeter grosse Industrieareal direkt nebenan an der Klosterstrasse erworben. Dort soll «im Dialog mit der Stadt und anderen Beteiligten» ein neues Quartier entstehen, das in seiner Gestaltung Bezug auf die «Pionierzeit der Textilindustrie» nimmt, wie Allreal die Presse jüngst wissen liess.
In der Vergangenheit sind in Winterthur international anerkannte Projekte wie die Transformation des Sulzer-Areals gelungen. Dies ist auch dem vergleichsweise niedrigen Investitionsdruck zu verdanken, der einen jahrzehntelangen Reifeprozess zuliess. Doch wie wirken sich die inzwischen sicherlich veränderten Rahmenbedingungen auf die Umgestaltung des einstigen Industriegeländes neben dem Rieter Campus aus? Winterthur mag längst nicht Zürich sein, hat aber seit den 1990er- und 2000er-Jahren gewiss an Anziehungskraft gewonnen.