Der Gesamtsieg war zum Greifen nah. Doch dann schlug das Pech zu – und Nicole Reist vollbrachte die grösste Heldentat ihrer Karriere
Elias Baumgarten
27. 6月 2022
Völlig ausgepowert fällt Nicole Reist ihren Betreuer*innen am Ziel in die Arme. Die letzten 200 Meilen des Race Across America seien die härtesten ihrer Karriere gewesen, sagte sie anschliessend. Am Ende wurde sie Gesamtdritte und gewann die Damenkonkurrenz. (Foto: Noah Diesing)
Nur noch 200 Meilen musste Nicole Reist durchhalten. Dann würde sie sensationell den Gesamtsieg beim Race Across America holen. Aber zwei Stürze warfen sie jäh aus der Bahn. Trotzdem schaffte sie es ins Ziel – als Damensiegerin.
Es war dunkel, als Nicole Reist völlig abgekämpft über die Ziellinie des knapp 5000 Kilometer langen Nonstop-Radrennens Race Across America rollte. Doch so viele Menschen waren überhaupt noch nie gekommen, um ihr zuzujubeln. Mit ihrem grossen Kampf hatte sie sich in die Herzen der amerikanischen Fans gefahren. Sogar ein Team des Schweizer Fernsehens war extra noch kurzfristig angereist, um über ihr Rennen zu berichten. Eigentlich hätte das alles eine grosse Siegesfeier werden sollen. Denn Reist hatte über 2800 der 3000 Meilen die gesamte Konkurrenz in Grund und Boden gefahren. Die filigrane Athletin schien in einer eigenen Liga, ihr grosser Traum vom Gesamtsieg war bereits greifbar nah. Doch nun mussten sie zwei Helfer vom Velo hieven. Vor Erschöpfung und Schmerzen nur mit Mühe stehend und auch emotional ausgelaugt, umarmte sie ihre Betreuer*innen innig; lange und mit Tränen der Erleichterung, aber auch der Enttäuschung in den Augen. Auch Allan Jefferson war da. Der sympathische Australier, selbst sichtlich mitgenommen von den Strapazen der vergangenen Tage, war schlussendlich als Sieger in Annapolis angekommen und hatte Stunden am Ziel gewartet. Unbedingt wollte er Nicole als Erster begrüssen und ihr zum Sieg in der Damenwertung und zum dritten Gesamtrang, vor allem aber zu ihrer heldenhaften Leistung gratulieren. Es war ein rührender, bittersüsser Moment, zum weinen schön und traurig gleichzeitig. Nicole Reist konnte da schon wieder lächeln.
Allan Jefferson, der nach Reists Pech die Gesamtwertung gewann, wartete lange am Ziel, um die Schweizerin zu empfangen und ihr Respekt zu zollen. (Foto: Noah Diesing)
«Natürlich bin ich enttäuscht, dass der zum Greifen nahe Traum des Gesamtsieges so kurz vor dem Ziel geplatzt ist. Allerdings bin ich froh, dass ich es unter den gegebenen Umständen überhaupt bis ins Ziel geschafft hab und nach 2016 und 2018 meinen dritten Damensieg holen konnte. Es war ein einziger Kampf. Das härteste Rennen meines Lebens. Ich habe noch nie so gelitten, wie auf diesen letzten gut 200 Meilen.»
Stunden zuvor war Reist in den Appalachen schwer gestürzt. Lange musste sie sich medizinisch versorgen lassen, ehe sie nach einem gründlichen Check-up doch weiterfahren durfte. Ihr riesiger Vorsprung war dahin, Jefferson hatte die Führung übernommen. Doch trotz grosser Schmerzen konnte die Schweizerin noch einmal Tempo aufnehmen, holte den Australier ein und distanzierte ihn nach mehreren Führungswechseln sogar noch einmal um Meilen. Dann aber kam sie ein zweites Mal zu Fall. Und diesmal sollte sie sich nicht mehr erholen. Reist erlitt einen schlimmen Einbruch und fiel noch auf den dritten Gesamtrang zurück – zu diesem Zeitpunkt ging es nur noch darum, sich irgendwie ins Ziel zu schleppen. Wäre sie vom Velo gestiegen und hätte aufgegeben, jeder hätte es verstanden. Doch das Wort aufgeben scheint in ihrem Vokabular zu fehlen.
Die Damenkonkurrenz gewann sie trotz allem überlegen: Die nächste Frau hatte einen Rückstand von 500 Meilen. Insgesamt benötigte Reist für die Fahrt von der West- zur Ostküste 10 Tage, 4 Stunden und 13 Minuten. Das heisst, sie pedalierte täglich über 500 Kilometer ostwärts. Ihr Traum vom Gesamtsieg mag (vorerst) geplatzt sein, doch mit ihrem Durchhaltewillen hat sie Radsportgeschichte geschrieben.
Foto: Noah Diesing
Zu ihrem Geburtstag am gestrigen Sonntag konnte Nicole Reist in fast allen grossen Schweizer Medien, die Ultracycling normalerweise kaum beachten, begeisterte Berichte über ihre Fahrt durch die USA lesen. Vielleicht beschleunigen all die Respektbekundungen und die grosse Wertschätzung ihre Rekonvaleszenz. Wenn sie sich rechtzeitig erholen kann, möchte sie am 9. August beim Race Around Austria starten und wenig später bei der Tortour zu Hause in der Schweiz die Saison abschliessen.
Mit dem Race Across America dürfte die Hochbautechnikerin indes noch eine Rechnung offen haben. Denn dass sie die Beine und das Herz hat, die Gesamtwertung zu gewinnen und den Geschwindigkeitsrekord von Seana Hogan aus dem Jahr 1995 zu brechen, hat sie soeben eindrücklich bewiesen.
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