Daniel Schwartz: «Ich bin froh, dass ich die Welt nicht retten muss. Ich wüsste nicht, wie»
Nadia Bendinelli
9. 11月 2023
Letpadan, Myanmar, 13. Oktober 2019 (Foto: © 2023 Philip Blenkinsop / VII)
Der renommierte Schweizer Fotograf blickt kritisch auf die Gesellschaft, und doch ist er ein Menschenfreund. Was bewegt ihn? Was möchte er mit seiner Arbeit erreichen?
Herr Schwartz, Sie werden mal als Künstler bezeichnet, mal aber auch als Dokumentarfotograf oder Reporter. Als was sehen Sie sich selbst?
Ich möchte meine Fotografie nicht in Kategorien zwängen, die ihre Entfaltung behindern. Mich hat nie interessiert, ob ich Kunstfotograf oder Fotojournalist bin, ich mache einfach Fotografie. Als Fotograf ist man Chronist des Verlusts – das Wort Chronist gefällt mir dabei besonders. Ich agiere mit dem Gedanken, dass die Aufnahmen über das Leben des Urhebers hinaus als Zeitdokumente nachwirken werden; als langfristig gültige Aufzeichnung, nicht als schnelle Antwort auf eine erregte Situation. Das Potenzial der Historizität der Fotografie interessiert mich.
Das vielleicht beste Beispiel hierfür ist mein Gletscherprojekt1: Die Fotografien sind abstrakt, also vielleicht durchaus Kunst, und doch sind sie auch mit wissenschaftlicher Beihilfe entstanden, indem ich mit Geologen und Klimatologen zusammengearbeitet habe. Sie besitzen gesellschaftspolitische Relevanz.
Manche Fotojournalisten finden, die eigene Arbeit gehöre nicht ins Museum.
Diese Haltung kann man selbstverständlich akzeptieren. Ich verstehe das Museum einfach als ein anderes Medium, um mittels Bildern Gegenstände zur Diskussion zu stellen. Fotografie ist der Vagabund unter den Künsten: Sie kann mit allen anderen Disziplinen in Dialog treten. Ihre «Gettoisierung» finde ich problematisch: Die Fotoszene agiert in einer zuweilen sehr selbstgefälligen Blase.
Die Ikonen des grossen Kriegsfotografen Don McCullin verdienen es sehr, in der Tate ausgestellt zu werden, denn das bedeutet eine ungeheure Wertschätzung seines Schaffens und eine Anerkennung auch dafür, dass seine Bilder mitgeholfen haben, den Vietnamkrieg zu beenden.
Eine steile These.
Ja, aber wahr. Damals hatte die Kriegsfotografie impact. Die Bilder der Life-Fotografen wurden wöchentlich publiziert. Die Leserschaft reagierte heftig darauf, und irgendwann war das Geschehen in der Ferne zu Hause nicht mehr tragbar.
Heute ist diese Wirkungsmacht verloren gegangen.
Primär dank der Politik: Während des Falklandkriegs hat sich die britische Regierung unter Margaret Thatcher bemüht, Fotografen wie Don McCullin eine Zulassung zu verweigern, und überhaupt hat sie jede Berichterstattung effizient verhindert. Sonst wäre offenbar geworden, was wirklich passiert. An der Wahrheit ist keine Kriegspartei interessiert.
Darüber hinaus gibt es immer mehrere «Wahrheiten». Als Fotograf muss man also von diesem Begriff und Anspruch Abstand nehmen und einfach zeigen, was sichtbar ist. Man muss versuchen, das Land, in dem man arbeitet, und seine kulturellen Besonderheiten zu verstehen. Es darf nicht um einen selbst und persönliche Vorlieben gehen, sondern darum abzubilden, was am jeweiligen Ort und für die Betroffenen relevant ist.
Wo liegt für Sie die Grenze des «Zeigbaren»?
Zeigbar muss eigentlich alles sein. Die Grenzen sind aber immer auch eine Frage des Kontexts, in dem eine Fotografie im besten Fall nicht nur gezeigt, sondern hoffentlich auch vermittelt wird. Beim Fotografieren selbst halte ich mich selbstverständlich an Grenzen, das heisst an die Regeln meines Metiers.
Daniel Schwartz bei der Arbeit. Twante Canal, Myanmar, 4. Oktober 2019 (Foto: © 2023 Philip Blenkinsop / VII)
Während der Reise entlang der Grossen Mauer Chinas. Hexi Corridor, Provinz Gansu, China, 5. Dezember 1987
Sie haben 1980 die Fotofachklasse abgeschlossen und sind seither extrem viel gereist. Was für ein Bild von unserer Gesellschaft haben Sie gewonnen?
Als Dilemma betrachte ich die wachsende Egozentrik und dass Partikularinteressen mit grösster Vehemenz vertreten werden. Dies führt zu Fragmentierung und Spaltung. Jeder beschäftigt sich nur mit sich selbst und seiner Gruppe – egal ob in Genderfragen oder der Politik. Es ist wichtig, gerade bei sensiblen Themen nicht in Extremismen zu verfallen. Oder wenn etwa problematische Kunstwerke weggeschlossen werden: Berauben wir uns da nicht der Möglichkeit, uns mit den Fehlern der Vergangenheit auseinanderzusetzen? Wer die schlimmen Kapitel der (Kultur)Geschichte einfach ausblendet, statt sich mit ihnen zu befassen, wird die Fehler der Vergangenheit wiederholen. Mir scheint, es geht heute leider oft weniger um die Sache als um die Einmischung in eine permanente Erregtheit per se. Im Lärm entwickelt sich kaum Konstruktives.
Ich habe den Eindruck, viele geben sich lieber der Hysterie hin, als mit kühlem Kopf wirklich etwas zu unternehmen.
Schon Ende der 1980er-Jahre ist das Thema Klimakrise aufgekommen. Damals war ich in Südostasien, wo die Konsequenzen des Klimawandels bereits sichtbar wurden2. Es ging darum, vorzugreifen, statt zu reagieren. Viele Jahre später griff ich das Thema erneut auf, da durch den Gletscherschwund die Erderwärmung mittlerweile auch in der Schweiz sichtbar geworden war. In den dreissig Jahren, die zwischen beiden Projekten liegen, wurde wenig unternommen bezüglich der Reduktion der Emissionen. Das macht mich traurig. Meine Generation hat versagt. Der aufgeklärte, industrialisierte Westen hat nach dem Mauerfall Party gemacht – der Kalte Krieg war gewonnen, es gab also vermeintlich keinen Anlass, etwa das eigene Konsumverhalten zu korrigieren.
Während des Taliban-Regimes (1996–2001) waren fotografische oder Filmaufnahmen von Menschen und sonstigen Lebewesen strikt verboten. Das Bild zeigt Daniel Schwartz auf der rechten Tafel des Diptychons ganz rechts aussen, aufgenommen von einem Taliban mit der Kamera des Fotografen. Provinz Badghis, Afghanistan, 31. März 2001
Sie kommen nach jedem Projekt mit mehr Fragen als Antworten zurück?
Es geht mir nicht darum, ein Meinungsmacher zu sein. Meine Fotografien dokumentieren nur, was sich zuträgt. Ich bin froh, dass ich die Welt nicht retten muss. Ich wüsste nicht, wie.
Das klingt resigniert. Sind Sie zynisch geworden?
Ich bin nicht kulturpessimistisch und zynisch möchte ich schon gar nicht sein.
Sie sehen also das Gute im Menschen?
Immer! Meine wichtigsten Lektionen habe ich auf Reisen gelernt: Am Ende sind es immer Individuen, die die Dinge zum Guten wenden und Lösungen finden, nicht Institutionen. Das Ökosystem der Medien funktioniert nicht zuletzt aufgrund herrschender Missstände und extremer Ereignisse, aber die Aufmerksamkeit ist selten von langer Dauer. Ähnliches ist auch von der Politik zu sagen, die zumeist nur bis zur Wiederwahl denkt.
Mein Ansatz ist die Beobachtung über längere Zeiträume. Zunächst recherchiere ich die avisierten Schauplätze. Dann schaue ich mich dort um, oft bevor die Lage eskaliert. Wenn das Land oder der Gegenstand «von der Karte fallen», kehre ich dorthin zurück. So entstehen schliesslich Bücher, die zum Beispiel ein vertieftes Verständnis verflochtener Konflikte ermöglichen sollen.
Haben Sie eine Vermutung, wie sich die Dokumentarfotografie in Zukunft entwickeln könnte?
Ich bin sicher, sie wird an Bedeutung gewinnen. Warum? Ich beobachte einen Trend geistiger Verwahrlosung: Apps nehmen uns Denken und Orientierung ab. Alles muss möglichst einfach, bequem und schnell konsumierbar sein. Ein vertieftes Verständnis und die allenfalls damit einhergehende Zufriedenheit werfen keine Rendite ab. Wir sind einer Flut von Pseudo-Informationen ausgesetzt. Aber ich sehe auch die Umkehrung dieses Trends. Vermehrt sagen mir Menschen, sie verstünden die Welt nicht mehr. Sie sind verunsichert – sei es durch die Pandemie, Kriege oder die Klimakrise. Angesichts der Häufung von Krisen haben sie das Gefühl, die Welt sei völlig aus den Fugen geraten, dabei war sie es schon immer, nur wird uns das mittlerweile in Echtzeit präsentiert. Menschen fragen sich heute, was sie tun sollen oder tun müssten und ob sie Schuld tragen. Sie suchen nach Antworten und wollen wirklich verstehen. Darum wird die Fotografie, die nicht sich selbst darstellt, sondern ein fragendes Publikum am Dargestellten teilhaben lässt, relevant. Sie zeigt unerbittlich auf, wie etwas ist oder war – angesichts von KI eine immer bedeutsamere Aufgabe!
1 «While the Fires Burn. A Glacier Odyssey», entstanden zwischen 2009 und 2016, 2017 als Buch erschienen (Thames & Hudson).
2 Daraus ist 1997 das Buch «Delta. Wasser, Macht und Wachstum in Asien» entstanden (Scalo und Thames & Hudson).
Das Buch «Daniel Schwartz Tracings. Photography and Thought» wurde anlässlich der Schau «Tracings» von Beat Wismer herausgegeben. Es zeigt das Werk des Fotografen und umfasst Texte von Giovanna Calvenzi, Carolin Emcke, Fanni Fetzer und Beat Wismer selbst. Erschienen ist es im Verlag Thames & Hudson.
Sie können die Publikation beim Kunstmuseum Luzern kaufen (inklusive deutschsprachiger Broschüre) oder direkt beim Verlag. (Fotos: Courtesy Thames & Hudson, London)
Daniel Schwartz ist 1955 in Olten geboren. Nach seinem Abschluss an der Fotofachklasse der Kunstgewerbeschule Zürich trieben ihn die Neugierde und die Leidenschaft für das Reisen in die Ferne. Als erster Ausländer dokumentierte er 1987–1988 die Chinesische Mauer eingehend. Zwischen 1990 und 2005 fotografierte er für die Kulturzeitschrift Du als Mitglied der Redaktion. Seine langjährigen Projekte entstanden im Hinblick auf Bücher und Ausstellungen. Die Klimakrise und die Lage in Kriegsgebieten wie Afghanistan gehören zu seinen fotografischen Hauptthemen.
Bis zum 4. Februar 2024 ist die Ausstellung «Tracings» im Kunstmuseum Luzern zu sehen.