«Da, wo ich mich nicht erklären muss»
Inge Beckel
28. 2月 2013
Auch ein Café kann Heimat sein … La Couronne d'Or, Lausanne (Bild: Schweizer Heimatschutz)
Mitte Februar fand an der ETH Zürich die Tagung Heimat, Handwerk und die Utopie des Alltäglichen statt. Eine Art gedankliches Resumé.
Die Auseinandersetzung mit Heimat habe Konjunktur, meinte auf dem Podium am Ende der Tagung der deutsche Filmemacher Edgar Reitz. Mit einer Gesamtlänge von über 50 Stunden hat Reitz zwischen 1982 und 2004 eine Trilogie zum Thema Heimat gedreht. Dabei gehe es ihm darum, die Welt zu verstehen. Denn ohne Zusammenhänge erkennen zu können, würden wir uns in der Welt nicht wirklich zurecht finden. Auch der Volkskundler Manfred Seifert definierte Heimat nicht örtlich – er sagte: «Heimat ist da, wo ich mich nicht erklären muss». Dennoch braucht es wohl stets physische Verankerungen – Landschaften und Bauten –, um sich beheimat zu fühlen. Diese sind aber nicht fix gegeben, sondern wandelbar.
Neben den Einführungen von Uta Hassler und Hans-Georg Lippert wurde während der zwei Tage – als exemplarische Nennungen – über Lebensreform (Kai Buchholz) referiert, über den Heimatstil in der Schweiz als Reformstil (Elisabeth Crettaz-Stürzel), John Ruskin (Peter Burman), Regionalismen im Wohnungs- und Städtebau des Nationalsozialismus (Tilman Harlander), über Baufibeln (Stephan Liebscher & Christoph Rauhut) oder Vorstellungen der Moderne für das Bauen in den Bergen (Bruno Reichlin), über Robert Maillarts «konservative» Brücken (Jürg Conzett) oder Schweizer Wasserkraftwerke (Jürg Ragettli). Auf dem Podium schliesslich sassen neben Reitz Gion A. Caminada, Pius Knüsel und der Politologe Richard Saage.
Reaktion auf Industrialisierung
Mehr als Überblick denn als Wiedergabe von Vorträgen lässt sich sagen, dass es das Konzept Heimat, gemäss Seifert, etwa seit den 1860er-Jahren gibt. Es ist, generell gesprochen, als eine Reaktion auf die damaligen Industrialisierungsprozesse zu verstehen – Prozesse, die für viele Menschen zu Verlusterfahrungen führten, was auch andere betonten. Anders gesagt, in jener Zeit, als durch neu gebaute Fabriken mitsamt ihren rauchenden Kaminen und der Fliessbandarbeit sowie durch Eisenbahnen und Strassen das «bäuerliche» Leben und mit ihm Landschaften sowie mittelalterliche Stadtgefüge aufgebrochen und neu arrangiert wurden, wurde sinngemäss die Sehnsucht nach einer (vorindustriellen) «Heimat» geboren.
Auch der Heimatschutz ist vor diesem Hintergrund gegründet worden, in Deutschland 1904, 1905 in der Schweiz. So bezeichnete beispielsweise die gleichnamige Zeitschrift des Schweizer Vereins in einem Rückblick von 1950 die Rettung des Matterhorns als ,die erste Tat des jungen Heimatschutzes‘*. Denn Anhänger des technischen Fortschritts, wie es in jenem Kommentar hiess, – und der noch jungen Tourismus-Industrie – hatten um 1910 (!) auf dem Gipfel des Matterhorns ein Hotel und im Berginneren einen Lift geplant. Zusammen mit weiteren Skeptikern hatte der Heimatschutz 80'000 Unterschriften gesammelt – und das Vorhaben, wie wir heute wissen, zur Freude oder zum Leide des Einzelnen verhindert.
«Ländliche» Baugesinnung und ihre Vereinnahmung
Eine Re-Aktion kann nun sinngemäss in Richtung einer Reform von etwas Veraltetem – oder veraltet Geglaubtem – oder in Richtung Wiederaufnahme von Traditionen führen. Um 1900 standen sich dabei in der Architektur unterschiedliche Formen von Historismen einerseits und Reformbewegungen anderseits gegenüber. Während erstere auf vergangene Baustile zurückgriffen, wollten die Reformanhänger Altes neu formen, also re-formieren. Die Vertreter des Heimatschutzes fühlten sich im Grundsatz letzteren verpflichtet. Als gute Vorbilder dienten ihnen mehrheitlich überlieferte Bautypen aus ländlichen Gebieten, die – in Abhängigkeit vom Ort, worauf Bezug genommen wurde – in unterschiedlichen Regionalismen mündeten.
Nun darf vor diesem Hintergrund nicht vergessen werden, dass die Vorkämpfer und Wortführer des Nationalsozialismus der 1930er- und 1940er-Jahre in Deutschland, und mit ihnen viele Architekten, das Bauen ebenfalls auf ländliche Traditionen ausrichteten, wobei eine ganze Palette von Vorbildern aus allen Gebieten des damaligen Reiches herangezogen wurde. Diese Vereinnahmung des einfachen ländlichen Bauens jener Zeit durch das Dritte Reich hat sich lange nach Kriegsende noch über Jahrzehnte negativ auf den Begriff Heimat, den Heimatschutz sowie das Bauen auf dem Lande insgesamt ausgewirkt – mit Nachwehen bis heute, was besonders für Deutschland zutrifft, wie die Tagung auch gezeigt hat.
Das Alltägliche
Doch letzten Endes sind es Alltäglichkeiten, die Heimat ausmachen – und nicht das Exklusive oder Besondere. Ob beim ländlichen Bauen oder in der Stadt, unser Alltag wird von Durchschnittlichem bestimmt. Entsprechend gehe es, wie Uta Hassler meinte, um die Utopie eines guten Durchschnitts. Generell müsse sich jede und jeder Heimat in der einen oder anderen Art selbst aneignen, so Saage; letzten Endes sei sie ein Konstrukt des menschlichen Geistes (und des Bauchs ?). Während Knüsel ergänzte, in unzähligen «Experimenten» würden sich Schweizer Künstler und Künstlerinnen heute Traditionellem und Heimatlichem annähern – was sich in den Alltag des 21. Jahrhunderts integrieren lasse, werde deren Praxistauglichkeit zeigen.
Die Verbindung des Begriffs Heimat mit Handwerk schliesslich deutete nochmals in eine andere Richtung. Handwerk sei, in Caminadas Worten, ganz pragmatisch eine «geduldige Art», etwas zu machen. Beim Handwerk spielt neben Wissen auch Hingabe eine Rolle, Emotionen. Die von Richard Saage geforderte persönliche Aneignung wird damit neben einer wohl oft wenig fassbaren Sehnsucht durch einen handfesten, konkreten Aspekt ergänzt, nämlich die Arbeit an oder das Herstellen von etwas Physisch-Realem. Dabei baut Handwerk trotz seiner individuellen Fertigung auf Überlieferungen auf. Mit Hingabe gefertigt, kann es folglich den guten Durchschnitt repräsentieren – und sinngemäss zu einem Stück Heimat werden …